Der Kommentar

14.09.2015: Die Welt reibt sich verwundert die Augen. Was ist in Deutschland passiert? Nicht mehr brennende Flüchtlingsheime und Pegida, sondern Willkommenskundgebungen für Flüchtlinge (obwohl trotzdem nahezu täglich Flüchtlingsheime abgefackelt werden). Es ist noch gar nicht lange her, da tat Kanzlerin Merkel, als seien die Dramen im Mittelmeer ein italienisches, griechisches oder maltesisches Problem. Die Grenzen blieben zu. Und jetzt: Auf die Grenzen! Merkel wurde zum Schutzpatron der Flüchtlinge. "Nun sitzt Merkel schon zwischen Gandhi und Jesus", schreibt die italienische 'Il Fatto Quotidiano'.

Als "Neubeginn der deutschen Geschichte" wird die Volte von Angela Merkel in der italienischen 'La Stampa' interpretiert. "Merkels Beschluss, Flüchtlinge aufzunehmen, schließt im kollektiven Gedächtnis vieler Europäer die Epoche des grausamen und feindlichen Deutschland, wie es im Zweiten Weltkrieg entstanden war." In der Zeitung 'Corriere' heißt es: "In Italien galt Angela Merkel  vielen bis vor Kurzem noch als Verkörperung aller Grausamkeiten, als personifizierte Perfidie, weil sie die Griechen aushungere. Nun ist sie für unsere Linke plötzlich eine Heilige."

Auch Marco Bascetta befasst sich in der kommunistischen 'Il Manifesto' mit der Umkehr von Merkel und kommt auf vier Gründe für die Kehrtwende.

Deutschland, Gründe für die Kehrtwende

Kann sich alles ändern, innerhalb weniger Wochen oder sogar Tage? Die europäische Presse möchte dies glauben machen.

Die deutsche Hegemonie über Europa scheint sich in eine leuchtende moralische Führungsfigur verwandelt zu haben. Die “Werte der europäischen Kultur” stellen diejenige der Börse in den Schatten, die historische Verantwortung siegt über das Buchhalterische, von dem letzten syrischen Flüchtling bis zur Kanzlerin Merkel stimmen sie alle die "Ode an die Freude" an. Für einige hat die “blasse Mutter” sogar den Geist von Hölderlin und Heine entstaubt und wieder zum Leben erweckt. Die Übertreibung ist das tägliche Brot der Medien.

Und doch ist etwas Neues geschehen.

Berlin, hat, wenn auch mit vielen Einschränkungen, eines seiner liebsten Geschöpfe in Frage gestellt: Jenen Vertrag von Dublin, der die Asylsuchenden zwang, in dem ersten Land zu bleiben, in dem sie ankamen. Berlin hat außerdem zu einer großen nationalen Anstrengung aufgerufen, um der Not der Flüchtlinge zu begegnen. Es hat erklärt, dass es sechs Milliarden seiner kostbaren Ersparnisse für die Unterbringung und Integration der Ankommenden zu investieren und hat an die Europäische Union einen Appell gesandt, eine Politik der Öffnung und des Willkommens zu betreiben.

Diese Kurskorrektur ist durch vier Faktoren zustandegekommen, die eher rationaler als emotionaler Natur sind:

Der erste, entscheidende Faktor ist das Wissen, dass der Druck des Flüchtlingsstroms jetzt unaufhaltsam geworden war. Die Regierung in Berlin hat letztendlich zur Kenntnis nehmen müssen, dass es keine materielle oder gesetztliche Hürde gibt, die eine Masse in Bewegung aufhalten kann.

Es handelt sich also um einen Sieg der MigrantInnen, der um einen sehr hohen Preis zustandegekommen ist und der die Folge der außergewöhnlichen Entschlossenheit der Flüchtenden war. Die Grenzen sind nicht einfach so, aus dem Wohlwollen der “Hausherren” heraus geöffnet worden, sondern sind von zehntausenden Menschen überrollt worden. Menschen die, noch bevor es ihnen jemand zugestanden hätte, ihr “Recht auf Flucht” wahrgenommen haben und sich die Bewegungsfreiheit einfach genommen haben. Außerdem war Eile geboten, denn es konnte in dem sich immer faschistoider gerierenden Ungarn alles passieren, - was von Europa allerdings bisher durchaus tolleriert wurde.

Die Grenzen zu öffnen war eher eine Notwendigkeit als eine Wahl.

Das zweite Element der Kehrtwende ist die Entdeckung, dass die rassistischen und xenophoben Attacken keinesfalls mehrheitsfähig sind und auch nicht so weit verbreitet waren, wie man landläufig geglaubt hatte. Die außergewöhnliche, spontane Mobilisierung zur Unterstützung der Flüchtlinge, von Wien, über München bis nach Berlin, hat die in Deutschland verbreiteten Schatten der antiislamischen “Patrioten” von Pegida - die jetzt nur noch kleine, in allen deutschen Städten von Antifaschisten belagerte Gruppen darstellen - und der äußerlich etwas präsentabler als die Neonazis auftretenden Nationalisten der “Alternative für Deutschland”, gebannt. Infolgedessen sind die Ängste, dass die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge große Stimmengverluste der bürgerlichen Parteien zugunsten der Rechten zur Folge haben würden, stark zurückgegangen. Zu guter Letzt könnte diese Stimmung sich sogar positiv für Merkels CDU auswirken.

Der dritte Faktor, der zu der Kehrtwende beigetragen hat, war die Notwendigkeit, das Image von Deutschland in Europa aufzubessern, denn es hatte wegen der Verhandlungen mit Griechenland stark gelitten. Das Land durfte nicht mehr mit der Bundesbank und ihrem grimmigen Gesicht identifiziert werden. Aber beim Unterstreichen, dass Deutschland ein gesundes und starkes Land ist, lässt Angela Merkel auch immer mitschwingen, dass nur durch Strenge eine außergewöhnliche Solidarität möglich wird. Ob streng oder ermunternd - die Führungsmacht sitzt immer noch in Berlin. In jedem Fall ist der Image-Wechsel perfekt gelungen, beurteilt man dies an den Lobgesängen, die sich in Europa und aus den Reihen der meistfotografierten Flüchtlinge erheben - und all das, auch ohne auf die kriegerischen Aussagen von London und Paris zurückgreifen zu müssen.

Der vierte Faktor ist das Wissen, dass die Immigration, falls sie ordnungsgemäß verwaltet wird, langfristig eine gewaltige Ressource für ein ökonomisches Modell wie das in Deutschland existierende darstellt, auch wenn sie zunächst einmal Kosten verursachen mag. Es geht also darum, Werkzeuge und die notwendigen Filter für diese Regierung und für ein europäisches Asylrecht zu entwickeln, das nach den Bedürfnissen der Migrationspolitik der Bundesrepublik ausgerichtet ist.

Die Arbeit dafür hat gerade erst begonnen und dabei muss mit dem Nationalismus der mehr oder weniger xenophoben Osteuropäer gerechnet werden, die lange Zeit von Berlin gepäppelt wurden. Aber vor allem gilt es, die Kriterien für Annahme und Ausschluss der Flüchtlinge zu etablieren. Zunächts schien es, dass die Tore Deutschlands nur für syrische Flüchtlnge geöffnet werden sollten. Dies war eine Diskriminierung gegenüber den anderen Menschen, die aus Gebieten mit bewaffneten Konflikten kamen und diese Diskriminierung ist laut dem deutschem Grundgesetz nicht erlaubt. Noch ist nicht geklärt, wer das Recht auf den Flüchtlingsstatus erhalten wird - sicher nicht die Menschen, die aus den Ländern des Balkans (Albanien, Serbien, Kosovo, Bosnien) kommen, da diese als sicher proklamiert wurden.

Das Kriterium ist einfach: Wer als aus “sicheren” Ländern kommt, wird sofort abgeschoben. Aber diese Definition öffnet Tür und Tor für die willkürlichsten und auch interessantesten Interpretationen. Und das umso mehr, als in vielen Ländern die sogenannte Sicherheit für eine Mehrheit besteht, aber durchaus nicht für Minderheiten. Man kann darauf wetten, dass, wenn dies das Ausschlusskriterium ist, die Welt bald als viel sicherer gelten wird, als man bisher dachte!

Jedenfalls scheint sich im alten Kontinent unter dem Einfluss der MigrantInnen eine Tendenz zur Veränderung und Erneuerung der europäischen Gesellschaften zu verbreiten. Diese Tendenz findet sogar ein Echo in den Worten der Kanzlerin, die durch ihren unerwarteten öffentlichen Erfolg fast wie berauscht wirkt.

Eine Bresche ist auf beiden Seiten der Grenze geschlagen worden - eine Bresche, die den gesamten europäischen öffentlichen Raum erfasst und die auch in dieser Größenordnung weiter verbreitert werden muss.

Marco Bascetta in Il Manifesto, 8.9.2015

foto: Il Manifesto

Übersetzung: Bettina Mandellaub