Der Kommentar

14.12.2011: Die Existenzkrise des Euro hat drei Gründe. Erstens die „volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte“ zwischen den Euro-Ländern. Deutschland, Luxemburg, Niederlande und Finnland haben beträchtliche Exportüberschüsse und die Problemländer Griechenland, Portugal, Italien, Spanien und Frankreich haben zum Teil gewaltige Handelsdefizite. Die vier Überschussländer haben den Defizitländern Kredite über 630 Milliarden Euro Kredite gewährt, damit die die Waren aus den „wettbewerbsstärkeren“ Ländern bezahlen konnten. Ohne einen Ausgleich in den Handelsbilanzen, ohne eine Erhöhung der Binnennachfrage in den Überschussländern, vor allem in Deutschland, und ohne eine Qualifizierung der Wirtschaftsstrukturen in den jetzigen Defizitländern – eine Verbesserung ihrer produktiven Leistung, nicht einer Verschlechterung der Löhne und Sozialleistungen – wird es keine „Rettung“ des Euro geben.

Zweitens erleben wir beileibe keine Krise des Sozialstaats, dessen angeblich zu hohe Kosten nun ihren Tribut fordern würden. Die Staatsquoten – der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt – sind in allen Euro-Staaten von 1980 bis 2008 gesunken, und erst im Jahr der Lehman- Pleite in die Höhe geschnellt, aber nicht, weil die Sozialausgaben gestiegen wären, sondern weil man die Banken „retten musste“. Nicht „wir“ haben über unsere Verhältnisse gelebt, sondern der Masse der Bevölkerung wurden die Verhältnisse ständig verschlechtert, während die Reichen immer reicher wurden, ihre Steuerlast immer geringer, ebenso wie ihre Lust, in die Realwirtschaft zu investieren, weil die Profite dort begrenzter waren. Die Massennachfrage blieb zurück, weil die Masseneinkommen im Verhältnis zur Produktivität ständig zurückblieben. In den einzelnen Euro- Ländern sank die Lohnquote von 1990 bis 2010 um durchschnittlich 10 Prozentpunkte. Da mussten die Reichen ihr Geld doch in „Finanzprodukte“ stecken. Das weltweite Problem des Kapitalismus und so auch der Eurozone ist die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen. Während die Bruttolohn- und -gehaltssumme sich in Deutschland seit 2000 kaum verändert hat, sind die Gewinne und Vermögenseinkommen real um über 40 % gestiegen. Von unten fehlt die Nachfrage, und oben hat man mehr Geld denn je.

Drittens stehen wir vor einer anhaltenden und sich beschleunigenden Euro-Existenzkrise, weil die Politik in ihren führenden Gestalten nichts weiter ist als ein willfähriger Ausschuss zur Bedienung der Interessen der Finanzmärkte. Im Zusammenspiel von Ratingagenturen, globalen „Investoren“ – deren größte übrigens die Haupt-Eigentümer der Ratingagenturen sind – und Großbanken wurde die Treibjagd auf immer mehr angeblich marode Staaten eröffnet, deren Zinsen in die Höhe getrieben und die Wetten auf den Absturz dieser Staaten eröffnet. Die deutsche Regierung wie die übrigen aus EU und Eurogruppe wiederholen immer wieder, man müsse das „Vertrauen der Märkte“ wiedergewinnen. Das heißt nichts anderes, als dass man die Staaten zwingt, ihre Völker zu massakrieren, um Kredite und Höchstzinsen bezahlen zu können. Und es heißt, dass die Bahn zum endgültigen Crash des Euro und damit des Europa, wie wir es kennen, noch abschüssiger wird. 1 Billion Euro müssen die Euro-Staaten an Schulden bezahlen, zusätzlich müssen die Euro-Banken allein 2012 mehrere hundert Milliarden Euro an Refinanzierungsmittel aufbringen. Der italienische Staat muss im 1. Quartal 2012 über 100 Milliarden Euro an Krediten und Zinsen zurückzahlen, wofür er jetzt schon ein Vielfaches etwa des deutschen Staates an Zinsen für neue Kredite zahlen muss. Wenn man dieses Feld weiterhin den Marktkräften überlässt, marschiert man geradewegs in die Katastrophe. Die Völker verarmen, die Staaten brechen zusammen, nichts blüht mehr außer den Zinsen.

Dieses Szenario gibt die Strategie der deutschen Regierung wider. Berlin verfolgte von Anfang an eine klare Linie: Zuerst sparen, dann retten. Nach dem letzten EU-Gipfel gilt für alle Staaten das Euro-Diktat: Alle nationalen Haushalte haben eine eingebaute Schuldenbremse; Brüssel und das heißt: Berlin und Paris kontrollieren Aufstellung und Durchführung der jeweiligen Haushaltspolitik; wer gegen die Auflagen verstößt, wird von Instituten der EU-Kommission gemaßregelt. Bei der Spar- und Kontrollpolitik geht es um nichts weniger als um die Liquidierung demokratischer Substanz in den Euro-Ländern. Sie sollen einem Regime unterworden werden, das des „Vertrauens der Finanzmärkte“ würdig ist, nicht des Vertrauens der Völker. Als der damalige griechische Ministerpräsident die Idee ins Spiel brachte, eine Volksbefragung über das „Rettungsprogramm“ durchzuführen, war der Horror unter den Euro-Gewaltigen ebenso riesig wie entlarvend. Das Volk befragen? Welch ein gefährlicher Wahnsinn, nicht Volkes Stimme, sondern der Sachverstand der Finanzstrategen ist gefragt. Die „Regierungen der Fachleute“ in Rom und Athen wie auch die Europäische Zentralbank werden geleitet von ehemaligen Managern von Goldman Sachs, der größten Investmentbank der Welt, und der Federal Reserve, der US-Notenbank. Die Macht der Finanzmärkte war nie größer als jetzt, da nur eine Politik gegen die Finanzmärkte aus der von diesen verschuldeten Krise hinausführen könnte.

Die Merkel-Regierung spielt eine riskante Zocker-Partie. Sie treibt die Krise des Euro und der Eurozone bewusst weiter, um ihre Stellung als Super-Kontrolleur auszubauen und so viel Demokratie wie möglich los zu werden. Wenn das erreicht ist, wird sie auch die Ausgabe von Eurobonds zulassen, von gemeinschaftlichen Anleihen des Euroraums. Wenn sie sich verzockt, kommt sie damit zu spät, und die Eurozone liegt in Scherben. Aber auch daran lässt sich noch gut verdienen.

Conrad Schuhler (Vorsitzender des isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.)