Der Kommentar

22.06.2011: Die Kluft zwischen dem, was die Menschen in Europa wollen, und dem, was die Regierenden tun, wurde selten so deutlich wie in den letzten Tagen.

  • In Griechenland gab es am 15. Juni den dritten Generalstreik in diesem Jahr. Millionen protestieren gegen das von der EU erzwungene Kaputtsparen des Landes und die räuberische Privatisierung öffentlichen Eigentums.
  • In Spanien gingen am letzten Wochenende erneut Hunderttausende in Madrid, Barcelona, Valencia, Sevilla, Granada, Malaga und anderen Städten gegen den von der EU geforderten Sparkurs auf die Straße. Die „Indignados“ („Empörten“) halten seit Tagen öffentliche Plätze mit Protestcamps besetzt.
  • In Italien nutzten Millionen die drei Volksabstimmungen am 15. Juni zur erneuten Absage an Berlusconi, nachdem sie ihn bereits bei den Kommunalwahlen Ende Mai abgestraft hatten.
  • Auch in Portugal sagten die Wähler am 5. Juni Nein zum EU-diktierten Sparkurs der bisherigen Regierung – auch wenn in dem Wahlergebnis zugleich die Gefahr des Missbrauchs der Unzufriedenheit durch rechte Demagogen sichtbar wird.
  • In Slowenien ergab eine Volksabstimmung am 5. Juni ebenfalls ein klares Nein zu einer den EU-Vorgaben entsprechenden Anhebung des Renteneintrittsalters.
  • In Frankreich liegt Staatschef Sarkozy bei Umfragen derzeit gerade noch bei 22 Prozent, nachdem er bei den Kantonalwahlen im März eine empfindliche Niederlage einsteckte. Auch in den EU-Staaten, in denen die „Kultur des Widerstands“ noch Nachholbedarf hat, hat die EU-Politik in der Bevölkerung keine Mehrheit. Nicht einmal die schwarz-gelbe Koalition in Deutschland kann das für ihren EU-Kurs behaupten.
  • Wenn es nach dem Willen der Völker ginge, müsste in EU-Europa eine völlig andere Politik gemacht werden. Aber die Regierenden lassen sich davon bisher nicht abhalten, ihren Kurs sogar noch zu verschärfen.

    • Die EU-Oberen haben in dieser Woche beschlossen, den Griechen mit der Angst vor dem Staatsbankrott ein noch rigoroseres Diktat als bisher aufs Auge zu drücken: noch mehr Sparzwang, noch mehr Lohn- und Rentenkürzung, noch mehr Privatisierung und Ausverkauf des öffentlichen Eigentums. Das wird Griechenland nicht „retten“, sondern tiefer in die Krise stoßen. Aber die „Gläubiger“, nämlich die internationalen Bank-, Versicherungs- und Finanzkonzerne, auch die Rüstungsfirmen, die Militärausrüstungen auf Kredit geliefert haben, bekommen ihr Geld mit Zins und Zinseszinsen. Das stellt die EU sicher.
    • Der Streit um die „Beteiligung der Privaten“ war nicht mehr als ein Ablenkungsmanöver. An einen echten Schuldenerlass, der Griechenland Luft für eine Neubelebung der Wirtschaft verschaffen würde, war nie gedacht. Die „Umschuldung“, von der jetzt geredet wird, verschafft nur den internationalen Finanzkonzernen die Möglichkeit, für „freiwillig“ verlängerte Kreditlaufzeiten auf Jahre hinaus weitere einträgliche Zinseinnahmen abzukassieren. Und dies ohne Risiko, denn EU und IWF übernehmen die Haftung.

    Es muss deshalb immer wieder gesagt werden: Das Geld bekommen nicht die Griechen. „Geholfen“ wird damit den internationalen Banken und Konzernen. Das „Griechenland- Rettungspaket“ ist ein Banken-Rettungspaket.

    • Darüber hinaus nutzen die EU-Chefs die Euro-Krise aber, um die Machtbefugnisse der EU-Zentrale gegenüber den Mitgliedstaaten weiter auszubauen und in allen EU-Staaten Sozialabbau, Lohndumping, Verschlechterung der Rentenleistungen und Ähnliches weiter voranzutreiben.

    Der „EU-Gipfel“ am 23./24. Juni soll den berüchtigten „Euro- Plus-Pakt“ endgültig verabschieden. Mit ihm wird laut EU-Originaltext „ein neuer Zyklus wirtschaftspolitischer Steuerung in der EU“ eingeführt, auch „Wirtschaftsregierung“ oder „Economic Governance“ genannt. Kernpunkte dessen, was die EU damit den Mitgliedstaaten „empfiehlt“: „Wiederherstellung solider Staatshaushalte“ durch weitere Kürzung öffentlicher Ausgaben und Stellenabbau im öffentlichen Dienst, „Einschränkung der alterungsbedingten Ausgaben“, „Senkung des Renteneintrittsalters“, Beschränkung des Lohnwachstums, Änderung der „Lohnverhandlungssysteme“ zugunsten betrieblicher und lokaler statt flächendeckender Tarifabschlüsse, „Herabsetzung der Höhe und Bezugsdauer der Arbeitslosenleistungen“, Lockerung des Kündigungsschutzes und anderer Schutzvorschriften – alles wörtlich so in den „Empfehlungen“ der EU-Kommission an die Mitgliedstaaten.

    Die EU-Chefs reagieren auf die Euro- Krise also mit einer noch schärferen Politik der Einschränkung des Massenkonsums. Damit die multinationalen Konzerne mit dem „harten Euro“ sich in der übrigen Welt noch günstiger „einkaufen“, Rohstoffquellen und billige Arbeitskräfte sichern, Produktion dorthin verlagern und profitabel erscheinende Unternehmen aufkaufen können.

    Es ist also falsch, dass die Euro-Krise nur Griechen, Portugiesen, Spanier oder Italiener trifft. In allen EU-Staaten sollen die Lasten der kapitalistischen Profit- und Krisenwirtschaft in dieser oder jener Form auf die Bevölkerung abgewälzt werden. Die Krise wird damit nicht bewältigt. Aber die Möglichkeit für reiche Kapitalbesitzer, noch reicher zu werden, wird gesichert. Das ist der Sinn der derzeitigen EU-Politik.

    Deshalb ist es Zeit, den Widerstand europaweit zu verstärken und besser zu vernetzen. Stillhalten und abwarten ist keine Lösung. „Wirkliche Demokratie jetzt“, forderten die jugendlichen „Empörten“ mit ihren Protestcamps. Das ist eine Durchsetzungsfrage. Der Widerstand muss stärker, sichtbarer, lauter, EU-weit massenhafter werden!

    Georg Polikeit  (Vorabdruck aus der UZ vom 24.06.2011)