Internationales

Kerem Schamberger (marxistische linke) ist mit einer Delegation zu den Newroz-Feierlichkeiten in die Türkei/Kurdistan gereist. Er berichtet:

27.03.2015: Nachdem wir nun einige Tage in Diyarbakir verbracht haben, befinden wir uns nun am 23.3. auf dem Weg nach Suruc (kurdisch: Pirsus). Doch erst machen wir einen kurzen Abstecher nach Mardin und schauen uns dort diese jahrtausendealte Stadt an. Leider haben wir dort keine politischen Gespräche, so dass es eher einem touristischen Kurzausflug ähnelt, aber das ist ja auch mal ok. Am nächsten Tag fahren wir weiter nach Urfa (kurdisch: Riha).

Dies ist eine Großstadt in der Nähe der syrischen Grenze, die überquillt von kurdischen und arabischen Flüchtlingen aus Syrien. An jeder Ecke stehen Kinder, die auf der Straße leben oder für ihre Familie betteln müssen. Die Stadt ist sehr religiös und wird trotz der kurdischen Bevölkerungsmehrheit (knapp 80% der Bevölkerung sind KurdInnen, der Rest besteht aus AraberInnen und TurkmenInnen) von der AKP regiert. Bei den Kommunalwahlen im letzten Jahr kam der beliebte kurdische Politiker der BDP und frühere Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, auf 30% der Stimmen. Immerhin ein Achtungserfolg.

Der Studierendenverein Höder

Als erstes haben wir ein Gespräch mit dem Höder-Verein (Verein der Studierenden der Harran-Universität). Höder ist Teil der landesweiten DÖDF (Föderation demokratischer Studierendenvereine) mit Vereinen  an 102 Universitäten in der Türkei. In diesen organisieren sich vor allem kurdische linke Studierende; aber auch AlevitInnen, TürkInnen und gläubige Moslems sind Mitglieder des Vereins. So ist unser Gesprächspartner ebenfalls türkischer Herkunft aus der Stadt Gaziantep. Sie organisieren Proteste, Veranstaltungen und auch die jeweiligen Newroz-Feierlichkeiten an ihren Universitäten.

Die gemeinsame Philosophie des Vereins beruht auf der Theorie der PKK und Abdullah Öcalans und ihr Ziel ist es, das Erbe der gefallenen Märtyrer anzutreten und weiterleben zu lassen. In letzter Zeit stand die Solidarität mit Kobane im Mittelpunkt ihrer Aktivitäten. So kümmern sie sich besonders um verletzte KämpferInnen, die aus Rojava und Kobane in die Türkei gebracht wurden, um dort behandelt zu werden. Dementsprechend häufig werden sie Ziel von Polizeirepression, Razzien und Festnahmen. Auch das Direktorat der Universität übt Druck aus und schließt die politisch aktiven Studierenden häufig vom Unterricht aus. Erst vor kurzem gab es dagegen einen 17-tägigen Hungerstreik an der Universität in Bingöl. Häufig führen die Ermittlungsverfahren und Haftstrafen dazu, dass die Studierenden sich gezwungen sehen, sich der Guerilla in den Bergen anzuschließen. Ihre Zahl geht in die Hunderte. Die Struktur der Guerilla insgesamt soll zu ca. 60-70% aus Studierenden bestehen, die vor Polizeirepression geflohen sind und ein freies Leben in den Bergen dem Gefängnis vorzogen. Der Genosse hebt hervor, dass sich in den letzten eineinhalb Jahren mehr als 100 Mitglieder des Höder-Vereins in Urfa den Reihen der YPG und YPJ in Rojava angeschlossen haben und sechs davon im Kampf gegen den IS gefallen sind.

Bei den Wahlen zum Studierendenrat der Universität (vergleichbar mit den Asta-Strukturen in Deutschland, aber mit weniger demokratischen Rechten) bekam der Verein die letzten beiden Male die Mehrheit der Stimmen. Allerdings wurden die Ergebnisse der Wahlen von Seiten der Universitätsleitung nicht anerkannt und annulliert, sodass es seit diesem Jahr keinen Studierendenrat an der Harran-Universität mehr gibt.

Frauen haben in dem Verein eine eigene Struktur in Form eines Frauenrates, bestehend aus 200 jungen Studentinnen. Generell ist die Aktivität von Frauen in Urfa aber geringer als in anderen kurdischen Städten, da das patriarchal-religiöse Gesellschaftssystem es ihnen erschwert aktiv zu werden. Viele Frauen schließen sich direkt der Guerilla oder der YPJ in Rojava an, da eine politische Arbeit in der Stadt von großen Teilen der Gesellschaft und auch oft von ihren eigenen Familien nicht akzeptiert wird.

Die Demokratische Partei der Völker (HDP) in Haliliye

Nach diesem überaus interessanten Gespräch treffen wir uns mit den beiden Vorsitzenden der HDP im Stadtviertel Haliliye. Sie betonen, dass Urfa eine Stadt ist, die der Philosophie der HDP entspricht, da hier sehr viele Identitäten friedlich zusammen leben: Kurden, Türken, Araber und Turkmenen. VertreterInnen aller dieser Bevölkerungsgruppen sind auch in der HDP Urfa aktiv.

Momentan führt die Partei in Urfa den Wahlkampf für die kommenden Parlamentswahlen am 7. Juni 2015. Die Bewerbungsfrist für eine Kandidatur auf der landesweiten Liste der HDP ist vor kurzem zu Ende gegangen und es haben sich insgesamt 92 KandidatInnen aus Urfa für einen Platz beworben. Landesweit haben sich mehr als 1.500 Menschen für einen Platz auf der HDP-Liste beworben. Das Parlament hat 550 Sitze und bei den Wahlen werden der Partei 50-60 Sitze prognostiziert, sollte sie die 10%-Wahlhürde überspringen können. Sechs BewerberInnen aus Urfa sind arabischstämmig, außerdem gibt es armenische und alevitische KandidatInnen. Die definitive Liste wird am 7. April auf einer landesweiten Konferenz gewählt. Es bleibt spannend, wer sich zum Schluss darauf wiederfinden wird.

Derzeit werden in Urfa Stadt- und Viertelkommissionen für die Wahlen gebildet, die vor Ort den Wahlkampf organisieren. Dabei stehen einzelne Familienbesuche im Mittelpunkt, um dort für Stimmen zu werben. Außerdem werden gerade vor allem SaisonarbeiterInnen aufgesucht, die in den nächsten Wochen die Stadt auf der Suche nach Arbeit verlassen und durch die ganze Türkei ziehen werden, um ihr Überleben zu sichern. Die saisonalen, kurdischen WanderarbeiterInnen sind der unterdrückteste Teil der Arbeiterschaft in der Türkei. Ein großer Teil von ihnen zieht an die Schwarzmeerküste, um dort gegen eine sehr geringe Entlohnung Haselnüsse zu pflücken. Diese werden zum Beispiel für die europäische Nutella-Produktion verwendet und landen auf vielen deutschen Frühstückstischen.

Die "Katzen-Teams"

Gleichzeitig versucht die Partei möglichst viele Menschen dazu zu bewegen, am Wahltag auf die Wahlurnen aufzupassen und mögliche Wahlfälschungen, die in der Vergangenheit immer wieder vorgekommen sind, zu verhindern. So kam es bei den Kommunalwahlen im März 2015 in der Region während der nächtlichen Stimmauszählungen zu flächendeckenden Stromausfällen, dutzende Urnen verschwanden und später wurden verbrannte Stimmzettelreste gefunden. Der Gouverneur gab Katzen die Schuld für den Stromausfall. Diese seien in Trafo-Häuser gekrochen und hätten einen Kurzschluss verursacht. Ein schlechter Witz, auf den die HDP mit Humor reagiert und ihre Wahlurnenkommission das "Katzen-Team“ nennt.

Da die Partei keinerlei Finanzierung vom Staat oder Großunternehmen erhält, fällt es ihr schwer bei der Wahlwerbung mit den anderen Parteien mitzuhalten. Deshalb versuchen sie an möglichst vielen Fernsehdiskussionen teilzunehmen. Die Anfragen der Fernsehsender sind da, denn die HDP wird als aktivste Kraft der Opposition im Lande wahrgenommen. Ein Unterschied zu den letzten Jahren, als die kurdische linke Opposition totgeschwiegen wurde. Die faschistische Partei MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) und die CHP (Republikanische Volkspartei) stehen zwar auch in Opposition zur AKP-Regierung, bieten aber keine wirkliche gesellschaftliche Alternative an. Auch Social Media spielt für die HDP eine wichtige Rolle und Dank der vielen jugendlichen AktivistInnen ist dies auch organisatorisch kein größeres Problem.


In Suruc (Pirsus) an der Grenze zu Kobane  (24 - 26.3.15)

Heute, am 24.3., fahren wir am frühen Morgen endlich nach Suruc (kurdisch: Pirsus) an die Grenze von Kobane. Die 100.000-Einwohner Stadt liegt nur eine knappe Stunde von Urfa entfernt und wird seit letztem März von der kurdischen Bewegung und ihrer Partei DBP regiert. Als wir ankommen, sehen wir sofort, dass die Stadt überfüllt ist. Überall sitzen Menschen auf den Bordsteinen und den öffentlichen Plätzen der Stadt. Das städtische Amara-Kulturzentrum dient seit sechs Monaten als Hauptquartier der Krisenkoordinierung. Täglich finden Sitzungen verschiedener Kommissionen statt, so zum Beispiel der Camp-Koordinierung, der großen Kobane Crisis-Kommission und der Koordinierung der internationalen Beobachter/Pressevertreter/Delegationen. Das Gebäude dient gleichzeitig als Unterkunft für alle InternationalistInnen, die in die Stadt kommen. Als wir ankommen, befinden sich bereits Menschen aus Brasilien, Argentinien, Italien und Spanien im Gebäude. Es gibt zwei provisorische Schlafräume für Männer und Frauen.

Wir laufen zum Rathaus und werden herzlich von den anwesenden GenossInnen empfangen. Im Versammlungsraum haben wir zwei Stunden lang die Möglichkeit einer Vertreterin der Gemeinde, einem Repräsentanten des DTK (Kongress der Demokratischen Gesellschaft, Dachorganisation der kurdischen Zivilgesellschaft) und einem Mitglied der HDP-Krisen-Kommission Fragen zu stellen. Man sieht ihnen die Belastung der letzten Monate an. Sie wirken erschöpft und ausgelaugt, strahlen aber trotzdem einen Optimismus aus, der bewundernswert ist.

Selbstorganisierte Zeltstädte für die Flüchtlinge

Es ist unvorstellbar: Mitte September 2014 kamen innerhalb von zwei Tagen mehr als 200.000 Menschen aus Kobane über die Grenze in die Stadt geflohen. Insgesamt blieben 70.000 Menschen dauerhaft in der unmittelbaren Umgebung von Suruc. Der Rest verteilte sich auf Verwandte oder Freunde in Nordkurdistan, nur einige wenige gingen in die staatlichen Camps. Die Verantwortlichen erzählen uns, dass viele erst Suruc verließen, dann aber wiederkamen, da sie in anderen türkischen Städten, in denen sie Unterkunft suchten, Opfer rassistischer Beleidigungen und Übergriffe wurden.

Da der Staat bei der Ankunft der Menschen nicht sofort aktiv wurde und viele Menschen auch nicht in staatlich organisierten Camps bleiben wollten, organisierte die Gemeinde mit Hilfe anderer von der BDP regierten Städte und Gemeinden sechs eigene Zeltstädte für mehrere zehntausend Menschen. Diese wurden ohne jegliche staatliche Hilfe und nur mit Freiwilligenarbeit und Spenden der Bevölkerung aufgebaut und am Laufen gehalten. Alle Gemeindeangestellten von Suruc arbeiten seitdem Tag und Nacht und sind teilweise seit Monaten nicht mehr Zuhause gewesen. 25 freiwillige ÄrztInnen arbeiten seit Oktober in den Zeltstädten und betreuen die Geflüchteten auch psychologisch. Die Camps selbst sind nach dem Räteprinzip organisiert, so wie die Stadt Kobane in den letzten zwei Jahren schon organisiert war. Es gibt Straßen- und Frauenräte, die die Verteilung der Hilfsgüter organisieren Außerdem wurden eigene Frauenzelte errichtet, die die psychologische Betreuung von Frauen sicherstellten, da diese am meisten unter dem Krieg – wie immer - zu leiden haben. Auch Schulen wurden eingerichtet, die die Kinder in ihrer Muttersprache unterrichten. Die Menschen in Suruc haben die Geflüchteten herzlich aufgenommen und die Türen für sie geöffnet. Als ich auf der Straße an einem Kebab-Stand vorbeikomme, steht eine Frau aus Kobane da und will sich einen Dürüm kaufen. Der Verkäufer besteht nachdrücklich darauf, dass sie nichts bezahlt. Solche Situationen erleben wir in den nächsten Tagen häufig.

Die GenossInnen weigern sich übrigens die aus Kobane stammenden Menschen als Flüchtlinge zu bezeichnen, da diese alle aus Kurdistan stammen und die Grenze zwischen Suruc und Kobane Anfang des 19. Jahrhunderts künstlich von den Imperialisten gezogen wurde.

Wiederaufbau von Kobane

Seitdem Kobane Ende Januar wieder komplett vom IS befreit wurde, fangen die Menschen wieder an zurückzukehren. Zwar gehen die Kämpfe in den Dörfern ungefähr 30km von Kobane entfernt weiter, aber tagtäglich erreichen uns Siegesmeldungen. Derzeit hat die YPG 50 IS-Kämpferin einem Dorf in die Enge getrieben und es ist nur noch eine Frage der Zeit bis diese aufgeben oder sterben.

Das Wichtigste was die Stadt und ihre Bevölkerung nun braucht ist ein offener Hilfskorridor, der es ohne Hindernisse erlaubt Baumaterial in die Stadt zu bringen, um diese wieder aufzubauen. In der Delegation diskutieren wir über einen Aufruf an Fachkräfte, die in den nächsten Monaten in die Stadt zu gehen und sich konkret beim Wiederaufbau zu engagieren sollen. Seit einigen Wochen arbeitet eine Wiederaufbau-Kommission an der neuen Stadtplanung. Dabei soll die Stadt auch nach ökologischen Gesichtspunkten entsprechend dem Paradigma der kurdischen Bewegung wieder errichtet werden.

Noch ist es sehr gefährlich in der Stadt, da der IS überall Sprengfallen und Minen beim Rückzug hinterlassen hat. Erst vor zwei Wochen sind zwei Gemeindeangestellte aus Van in der Stadt gestorben, als sie auf eine Mine getreten sind. Außerdem ist es eine starke psychologische Belastung in der stark zerstörten Stadt zu sein, über der ein süßlicher Leichengeruch hängt, da noch viele Tote in den Trümmern liegen und nicht geborgen werden konnten.

Auch wir wollen mit einem Teil der Delegation in die Stadt gehen, allerdings verweigert das türkische Landratsamt seit drei Wochen Ausländern den Übertritt. Das ist ein Problem, da viele VertreterInnen internationaler Hilfsorganisationen so nicht direkt vor Ort kommen können, um sich ein Bild von der Lage machen zu können. Wir entscheiden uns deshalb vor Ort in Suruc in den Zeltstädten und Depots zu helfen.

An der Grenze

Nach dem Gespräch im Rathaus fahren wir direkt an die Grenze. Die Stadt liegt direkt vor uns, beziehungsweise das was von ihr übrig geblieben ist. Als wir aus dem Bus aussteigen, laufen sofort türkische Soldaten auf uns zu und versuchen uns mit ihren Gewehren zu verscheuchen. Es sei verboten sich der Grenze zu nähern und Fotos zu machen. Widerwillig weichen wir ein paar Schritte zurück. Es ist ein paradoxes Bild: Die Sonne geht unter, über uns fliegen zwitschernde Vögel und die grünen Wiesen wiegen sich im Wind sanft hin und her. Und vor uns liegt Kobane. Die Stadt, die zum Symbol der kurdischen Freiheitsbewegung geworden ist und von ihr als das kurdische Stalingrad bezeichnet wird; der Stadt, in der offiziell 600 GenossInnen ihr Leben gelassen haben. Ein Genosse der HDP führt uns herum. Er hat einen Neffen im Kampf verloren und wurde bei Protesten an der Grenze selbst schwer verletzt, als die Militärpolizei aus nächster Nähe eine Gasgranate auf ihn abschoss. Er musste in der Schweiz behandelt werden.

Nur ein niedriger Zaun und einige Wachtürme machen deutlich, dass zwischen uns und der Stadt eine Grenze liegt. Eindrucksvoll schildert der Genosse wie er selbst gesehen hat, wie die türkische Armee den IS-Kämpfern Kisten voll Nahrung und Munition über die Grenze reichte. In einem Dorf das 500 Meter hinter uns liegt, wurde zum Gedenken an zwei gefallene Genossinnen eine Bibliothek eingerichtet, die Arin Mirxan & Kader Ortakkaya-Bibliothek. Arin Mirxan war eine Kämpferin der YPJ. Als ihre Einheit vom IS eingekesselt wurde, alle ihre Genossinnen getötet waren und sie keine Munition mehr hatte, gab sie vor sich zu ergeben. Als sie in Mitten der IS-Kämpfer war, sprengte sie sich in die Luft und nahm bis zu 70 IS-Milizionäre mit in den Tod. Kader Ortakkaya war eine Aktivistin auf der türkischen Seite der Grenze, die die täglich stattfindenden Mahnwachen in den Dörfern organisierte und von türkischen Soldaten durch einen Kopfschuss ermordet wurde. Die Mahnwachen, die über fünf Monate stattfanden, waren täglich von 2.000 – 8.000 Menschen besucht. Tag und Nacht wollten sie sicherstellen, dass der IS keine weitere Unterstützung vom türkischen Staat an diesem Teil der Grenze mehr erhält. Dies war der Armee natürlich ein Dorn im Auge und so griff sie diese Proteste an. Hunderte Menschen wurden dabei verletzt und mehrere getötet. Doch die Menschen protestierten weiter.

Sichtlich ergriffen fahren wir nach dem Bibliotheksbesuch wieder zurück in das 8km entfernte Suruc. Über diesen Grenzbesuch könnte man noch so viel schreiben, aber mir fehlen die Worte über eine Stadt zu schreiben, die einen in den letzten sechs Monaten jeden Tag beschäftigt hat, über die man jede verfügbare Neuigkeit verschlungen hat, Proteste und Solidarität organisiert hat.

In der Sehid Gelhat-Zeltstadt

Am nächsten Morgen fahren wir in einer kleinen Gruppe in eines der Camps. Die Größe macht uns sprachlos. 1.000 Zelte stehen Mitten im Nirgendwo, die Stadt Kobane ist in Sichtweite. 10.000 Menschen wurden alleine hier untergebracht. Derzeit befinden sich noch ungefähr 2.000 Menschen im Camp, der Rest ist zurück nach Kobane gegangen. Die freiwilligen HelferInnen sind alles GenossInnen, die der kurdischen Bewegung sehr nahe stehen. Sie kommen aus der ganzen Türkei. Überall sind die Logos der PKK und der YPG zu sehen. Das Gesundheitszelt heißt Dr. Bahoz Erdal-Zelt, dies ist der Name eines führenden PKK-Kommandanten in den Kandil-Bergen, der aus Syrien stammt. Man merkt sofort, dass der türkische Staat hier nichts zu sagen hat und dieses Camp komplett von der kurdischen Zivilgesellschaft organisiert wird. Gemeinsam mit den CampbewohnerInnen packen wir sofort an und bauen die Zelte ab, in denen sie den letzten Winter verbracht haben. Die Zelte, in denen bis zu 10 Menschen gelebt haben, werden in ihre Einzelteile zerlegt und auf LKWs geladen. Diese fahren über die Grenze nach Kobane und werden dort wieder aufgebaut, bis die Häuser der Menschen wieder bewohnbar sind. Während wir Abbauen, spielen dutzende Kinder um uns herum. Ihre lachenden Gesichter täuschen über das hinweg, was sie die letzten Monate durchgemacht haben. Nur in der Mimik der älteren Menschen, die oft apathisch in ihren Zelten sitzen, erscheint das Leid der letzten Zeit. Lachend kommt ein etwas elfjähriges Mädchen auf mich zu und sagt etwas wie „Bra min sehid, bra min Daesh“. Da ich kein kurdisch kann, bitte ich einen Genossen um Übersetzung. Sie wolle mir sagen, dass einer ihrer Brüder im Kampf gegen den IS gefallen und einer als Geisel in den Händen der Terroristen ist. Was soll ich dazu sagen. Ein etwas älterer Genosse zeigt mir ein Handybild, das er gestern gemacht hat. Darauf ist er mit einem jüngeren YPG-Kämpfer zu sehen. Das sei sein Bruder, er habe sich vor neun Jahren der PKK angeschlossen und kämpft nun seit einem Jahr in Rojava gegen den IS. Er habe ihn nicht mehr erkannt, aber als er gestern in Kobane war, sei der jüngere Bruder freudestrahlend auf ihn zu gerannt. Sie hatten sich seit 2005 nicht mehr gesehen.

Nachdem der LKW vollgeladen ist und weggefahren ist, machen wir Mittagspause im HelferInnenzelt. Dort befinden sich gerade andere kurdische Studierende, die seit Wochen und Monaten am Helfen sind und sich über uns lustig machen, dass wir nur für zwei Tage gekommen sind. Wie recht sie haben. Zum Abschluss verteilen wir noch Obst, das von einem Relief Fund gespendet wurde. Emotional erschöpft und befriedigt zugleich kehren wir abends in das Kulturzentrum zurück.

Der zweite Tag sieht ähnlich aus, wir fahren in das gleiche Camp und helfen beim Abbau der Zelte. Die Geschichten, die uns die FreundInnen vor Ort erzählen, sind wirklich erschütternd. Ein verletzter YPG-Kämpfer, der ein Schrappnell-Teil einer Kugel in die Hand bekommen hat, erzählt uns von seinen Kampferfahrungen. Auf einmal bekommen wir die Nachricht, dass drei Ehemänner, die sich als Geiseln in der Hand des IS befunden haben, in der letzten Woche geköpft worden sind. Ihre Familien befinden sich im Camp.

Als ich diese Zeilen schreibe, sitzen wir an unserem letzten gemeinsamen Abend zusammen in einer kleinen Wohnung in Suruc. Über Nacht werden wir uns mit unseren Bussen auf den Weg zurück nach Diyarbakir machen. Wir alle spüren, dass wir alle noch länger in den Zeltstädten bleiben und helfen sollten; Arbeit gibt es genug.

Wenn ihr eine Veranstaltung organisieren wollt, dann meldet euch!
Sollte unter den LeserInnen Interesse bestehen zum Helfen dorthin zu fahren, kann er/sie mich gerne unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. kontaktieren. Dieser Bericht ist der letzte dieser Newroz-Delegationsreise der YXK. In der kommenden Zeit werden wir an einer Broschüre und an einem kleinen Film über diese Fahrt arbeiten. Vor allem werden in ganz Deutschland Veranstaltungen stattfinden, mit Bildern und Eindrücken vom derzeit laufenden Friedensprozess, der Situation in Suruc und den Newrozfeierlichkeiten. Wenn ihr eine Veranstaltung organisieren wollt, dann meldet euch.

txt und fotos: Kerem Schamberger



siehe auch