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alt21.02.2011:  Die Volkserhebungen in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern haben die dort bestehenden Regierungen und Herrschenden zu verschiedenen Reaktionen veranlasst. Die Führung der Palästinensischen Autonomiebehörden, derzeit und weiterhin in einer defensiven Position gegenüber der politischen Führung Israels und offenbar mit dem Bild unlegitimierter und von den Volksmassen bedrängter Regierungen vor Augen, gab neue Pläne zur Durchführung von Kommunalwahlen bekannt. Das parteiunabhängige 'Palästinensische Zentrum für Menschenrechte' (PCHR) mit Sitz im Gaza-Streifen wies in einer Erklärung auf die Fragwürdigkeit dieser Pläne hin.

Nachstehend der vollständige Text der Erklärung

Auf der Tagung der palästinensischen Regierung in Ramallah am 8. Februar 2011 entschied diese, Kommunalwahlen am Samstag, den 9. Juli 2011, durchzuführen und beauftragte die Zentrale Wahlkommission (ZWK) mit der Einleitung der technischen Vorbereitungen.

Diese Entscheidung eröffnet erneut die Auseinandersetzung über die Wahlen hinsichtlich der Teilung der Palästinensischen Autonomiebehörden, die seit Juni 2007 besteht. Während die Entscheidung von einigen politischen Parteien, vor allem der Fatah-Bewegung, akzeptiert und begrüßt wurde, weisen sie andere politische Parteien, wie etwa die Hamas-Bewegung, zurück. Die Durchführung von Kommunalwahlen ist jetzt nicht zum ersten Mal angekündigt worden. Am 8. Februar 2010 rief das Kabinett der palästinensischen Regierung in Ramallah zu Wahlen für alle Kommunalbehörden in der Westbank und im Gaza-Streifen am 17. Juli 2010 auf. Ferner kündigte Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas die Herausgabe eines Erlasses zur Durchführung von freien und ordentlichen Parlaments- und Präsidentenwahlen zu den palästinensischen Autonomiebehörden für den 24. Januar 2010 an.

In den vergangenen drei Jahren hat das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte (PCHR) die Auseinandersetzungen darüber genau beobachtet und dazu Erklärungen abgegeben, die seine Stellung bezüglich der Abhaltung von Wahlen deutlich aufzeigen. PCHR hat seinen Standpunkt zur Durchführung von Wahlen, gleich ob Präsidentschafts-, Parlaments- oder lokale Wahlen zu verschiedenen Gelegenheiten dargestellt.

Als die Amtszeit von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas, die nach der palästinensischen Verfassung 4 Jahre dauert, im Januar 2009 auslief, entstand eine Auseinandersetzung über die Wahlen. Die Medien berichteten über sich widersprechende Erklärungen von Beamten und Parteivertretern in den Fatah- und Hamas-Bewegungen und den Institutionen der Palästinensischen Autonomiebehörden, die zwischen den beiden Parteien aufgeteilt sind. Die Hamas vertrat die Ansicht, dass die Amtszeit des Präsidenten 4 Jahre nach seiner Wahl ausläuft und dass bei ausbleibenden Präsidentschaftswahlen das Amt des Präsidenten als unbesetzt zu gelten hat. Der Parlamentspräsident solle in dieser Situation das Amt des Präsidenten für 60 Tage ausüben und während dieser Zeit seien Neuwahlen abzuhalten. Die Fatah nahm den Standpunkt ein, dass die Präsidentschaftszeit kraft des Paragraphen 9/2005 des Wahlgesetzes verlängert werden könne, um die Durchführung von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen nach dem Auslaufen der Legislaturperiode des Parlaments in 2010 zu organisieren.

Zu dieser Zeit gab PCHR eine Stellungnahme heraus, die den Titel trug "Die Kontroverse über das Ende der Präsidentschaft". In dieser Schrift drückte die PCHR ihre ganze Unterstützung für den Grundsatz regulärer Wahlen aus, was sich aus dem uneingeschränkten Eintreten des Zentrums für demokratische Reformen ergibt. Allerdings wies PCHR darauf hin, dass das Abhalten von Wahlen bestimmte Rahmenbedingungen erfordert, welche Gerechtigkeit und Transparenz im gesamten Wahlablauf sichern, damit so die Wahlergebnisse auch die Entscheidung der Wählerschaft gesichert widerspiegeln können. Solche Voraussetzungen sind im Zustand der politischen Spaltung nicht erfüllt, was sich deutlich in den Verletzungen der öffentlichen Freiheit, einschließlich der Grundrechte und Freiheiten der Palästinenser durch die beiden Regierungen in Gaza und Ramallah zeigt.

Die Kontroverse über die Wahlen begann erneut, als Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas am 23.10.2009 einen Erlass zum Aufruf zu freien und ordentlichen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24.1.2010 ankündigte. Die Hamas-Bewegung vertrat die Haltung, dass es wegen der gegenwärtigen Spaltung unmöglich sei, solche Wahlen abzuhalten. Das Grundgesetz sähe vor, dass die Parlamentarische Rat seine Pflichten weiter wahrnehmen und erfüllen müsse, bis ein neuer Parlamentarischer Rat vereidigt sei.  Am 25.10.2009 veröffentlichte PCHR eine Stellungnahme dahingehend, dass der Präsidentenerlass verfassungsrechtlich zulässig sei, dass seine Durchsetzung jedoch angesichts der anhaltenden Spaltung der Nation unmöglich sei, und dass die nationale Versöhnung eine unbedingte Voraussetzung für Wahlen sei.


Die dritte Welle der Auseinandersetzungen über Wahlen begann, als der Ministerrat in Ramallah am 8. Februar 2010 entschied, dass Kommunalwahlen in der Westbank und im Gaza-Streifen am 17. Juli 2010 abzuhalten seien. Hier ist anzumerken, dass die Regierungszeiten der Kommunalbehörden zuletzt im Mai 2005 ausliefen, und dass die beiden Regierungen in der Westbank und im Gaza-Streifen dort neue Kommunalbehörden jeweils unter Einschluss von ihnen nahe stehenden Vertretern direkt ernannten, wo die Amtszeit dieser Behörden auslief oder wo diese Behörden nicht durch Wahlen bestimmt werden.


Die Wahlen der Kommunalbehörden wurden, beginnend Ende 2004,  in mehreren Phasen durchgeführt. Der erste Teil der ersten Runde der Kommunalwahlen wurde am 23. Dezember 2004 für 26 Gemeinderäte in der Westbank durchgeführt, der zweite Teil der ersten Wahlrunde wurde in 10 Kommunen im Gaza-Streifen am 27. Januar 2005 organisiert. Die zweite Runde der Kommunalwahlen begann am 5. Mai 2005 in 84 Gemeinden in der Westbank und im Gaza-Streifen. Die dritte Runde dieser Wahlen, deren Durchführung in den großen Städten vorgesehen war, fand jedoch nicht statt und diese Kommunalbehörden wurden direkt durch die (jeweiligen) Regierungsbehörden ernannt.

PCHR veröffentlichte auch eine Stellungnahme zu einem Aufruf zu Kommunalwahlen im Februar 2010. PCHR erklärte, dass die Durchführung von Kommunalwahlen angesichts der anhaltenden politischen Spaltung unrealistisch ist. Das palästinensische Kabinett entschied später in seiner Sitzung am 10. Juni 2010, die Kommunalwahlen auszusetzen und kündigte die Abhaltung dieser Wahlen zu einem späteren Zeitpunkt an. Am 13. Dezember 2010 hob der Oberste Gerichtshof in Ramallah die Kabinetts-Entscheidung vom 10. Juni 2010 zur Aussetzung der Kommunalwahlen jedoch auf, nachdem einer der Wahlkandidaten die Entscheidung des Kabinetts vor dem Gerichtshof angefochten hatte.

Im Lichte der neu anlaufenden Auseinandersetzung über die palästinensischen Wahlen, möchte PCHR seinen Standpunkt wie folgt deutlich machen:

  1. PCHR bekräftigt seine volle Unterstützung der demokratischen Reform der Palästinensischen Behörden und bekräftigt, dass Demokratie unter anderem gerechte und offene Wahlen erfordert, in denen die Wählerschaft solche Vertreter frei bestimmen kann, die den Willen des Volkes repräsentieren und welche dem Volk rechenschaftspflichtig sind.
  2. Wahlen müssen Teil eines umfassenden demokratischen Prozesses sein. Präsidentschafts-, Parlaments- oder Kommunalwahlen erfordern zwingend bestimmte Bedingungen zur Durchführung von gerechten und offenen Wahlen, die den Willen der Wähler widerspiegeln. Diese Bedingungen schließen insbesondere die Gewährleistung öffentlicher Freiheiten ein, darunter die Meinungs- und Redefreiheit, das Recht zu friedlichen Versammlungen und Vereinigungen, die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Aufhebung des Verbotes bestimmter politischer Aktivitäten (der Hamas in der Westbank, der Fatah im Gaza-Streifen) und die Erlaubnis freier Betätigung aller Print- und audiovisueller Medien.
  3. PCHR weist auf den ernsten und bisher nicht dagewesenen Verfall der öffentlichen Freiheiten und auf die anhaltende Verletzung der palästinensischen Menschenrechte in den Gebieten unter Verwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörden hin. Die Beobachtungen und Untersuchungen der PCHR ergaben, dass die große Mehrheit der innerpalästinensischen Menschenrechtsverletzungen in der politischen Spaltung begründet sind. PCHR betont, dass der Schutz der palästinensischen Rechte und Freiheiten verfassungsmäßig gefordert ist, und dass die verübten Verletzungen derselben in der Westbank und im Gaza-Streifen Verletzungen des Grundgesetzes sind.  Dementsprechend ist die Beendigung der politischen Spaltung eine grundlegende Vorbedingung für freie und offene Wahlen, welche die Meinung der Wählerschaft widerspiegeln.
  4. Wahlen können nicht ohne Sicherstellung notwendiger gesetzlicher Garantie und ohne die Existenz eines geeinten und rechtlich unabhängigen, insbesondere neutralen und politisch unabhängigen Gerichtshofes durchgeführt werden, der die Kompetenz zur Entscheidung von die Wahlen betreffenden Konflikten hat.
  5. Die anhaltende Krise der Palästinensischen Autonomiebehörden ist eine politische Krise. Sie ist keine rechtliche oder Verfassungskrise. Der einzige Weg zu ihrer Beendigung ist der durch einen umfassenden nationalen Versöhnungsdialog.
  6. Die öffentlichen Amtsmandate, die das Volk in den Präsidentschaftswahlen von 2005 und in den Parlamentswahlen von 2006 vergab, sind keine beliebig offenen Mandate. Diese Mandate liefen aus, als die Amtszeit des gesetzgebenden Rates am 24. Januar 2010 zu Ende ging. Auch wenn PCHR nicht behauptet, dass ein rechtlicher Leerraum entstanden ist, kann doch kein politischer Vertreter in Anspruch nehmen, dass er demokratisch legitimiert sei oder den Willen des Volkes vertrete. Das  Volk muss in Verbindung mit umfassender nationaler Versöhnung als Vorbereitung von Wahlen neue Mandate erteilen.
  7. Die politischen Kräfte und Organisationen der Zivilgesellschaft müssen der anhaltenden Spaltung und dem Ziel der nationalen Versöhnung oberste Priorität einräumen. Schnelle und wirksame Maßnahmen zum Beenden der andauernden politischen Spaltung in den Palästinensischen Autonomiebehörden sind zu ergreifen. Denn sonst zahlen das palästinensische Volk und seine nationale Sache den Preis. Das palästinensische Volk bleibt weiter denn je vom Ende der israelischen Besatzung und vom Erreichen seiner rechtmäßigen und unveräußerlichen Rechte auf Freiheit und Selbstbestimmung entfernt.


Text und Übersetzung: hth  /  Foto: openDemocracy (Wahlen 2008 in Palästina)