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18.01.2011: In atemberaubender Geschwindigkeit verwandelte sich eine soziale Bewegung in einen breiten Volksaufstand. Tunesiens Diktator Ben Ali wurde ins Exil verjagt. Aber Ben Alis bisherige Komplizen versuchen zu retten, was zu retten ist. Der Kampf ist noch nicht zu Ende. "Die Revolution geht weiter", skandieren die DemonstrantInnen unter der Losung "Freiheit, Arbeit, Würde". Für Empörung sorgten Berichte, wonach die Ehefrau Ben Alis vor der Flucht mehr als eine Tonne Goldbarren von der Zentralbank abgeholt haben soll. Die neue Regierung feuerte umgehend den Chef der Zentralbank.

Es war eine echte Volksrevolution. Noch dazu eine erfolgreiche. Jedenfalls bisher. Weltweit die erste Revolution im 21. Jahrhundert. Aber der Kampf ist noch nicht zu Ende. Im Augenblick deuten alle Signale darauf hin, dass die Stützen des alten Regimes mit aller Macht und List versuchen, das Volk um die Früchte seines Aufstands zu betrügen.

"Die Revolution geht weiter", riefen Demonstranten in Tunis am vergangenen Montag nach Bekanntgabe der neuen "Übergangsregierung", die in den entscheidenden Ministerien die alte geblieben ist. Aber wird das Aufbegehren der Volksmassen auch weiterhin die Kraft entwickeln, um tatsächlich einen echten politischen Machtwechsel durchzusetzen, der die Voraussetzung für die Erfüllung der Hoffnungen der Menschen auf wirkliche Demokratie und bessere Lebensverhältnisse ist? Das ist derzeit noch nicht abzusehen.

Beachtung verdient, dass sich diese Revolution in einem arabischen Land entwickelt hat, das schon nicht mehr zu den ärmsten auf dem afrikanischen Kontinent gehörte. Unter den drei nordafrikanischen Maghreb-Staaten galt Tunesien als das wirtschaftlich am besten entwickelte. Land. (Flächenmäßig ist Tunesien übrigens knapp halb so groß wie Deutschland, aber mit 10,2 Millionen Einwohnern weitaus dünner besiedelt.)

Glücklicherweise war die tunesische Volkserhebung keine der "bunten Revolutionen" unter ethnisch-völkischen oder religiösen Vorzeichen, wie sie uns in der Vergangenheit mehrfach in den Medien vorgeführt worden sind. Die tunesische Revolution hatte eindeutig sozialen Charakter.

Es war eine Revolution der Jugend, die sich nicht mehr mit Armut und Unterdrückung, mit einem Leben ohne Perspektive trotz guter Ausbildung abfinden wollte. Ein Aufstand breiter Volksschichten, die Arbeitslosigkeit, ständige Verteuerung der Lebenshaltung und Ausplünderung durch ein korruptes und räuberisches, von den imperialistischen Großmächten aber nachdrücklich gestütztes Regime nicht länger ertragen wollten.

Innerhalb von nur vier Wochen verwandelte sich eine soziale Bewegung, die zunächst durch einen lokalen Vorfall ausgelöst wurde - nämlich die Selbstverbrennung des arbeitlosen jungen Akademikers Mohamed Bouazizi in der Stadt Sidi Bouzid, weil die Polizei seinen ambulanten Gemüse- und Obsthandel beschlagnahmt hatte, mit dem er sich über Wasser halten wollte, ohne von den Behörden eine Genehmigung erkauft zu haben -, in einen nicht mehr zu bremsenden landesweiten Volksaufstand. Auch der mehrmalige Versuch des Diktators, mit Versprechungen und der Ankündigung von Zugeständnissen zu manövrieren, half dann nichts mehr. Am Ende blieb ihm und dem engsten Zirkel seiner Vertrauten aus dem Trabesi-Clan (nach dem Namen seiner Frau als Symbol einer Vetternwirtschaft, die sich in allen lukrativen Geschäftsfeldern des Landes, vom Immobilienhandel und dem Bau von Touristenanlagen über Ölförderung und Textilindustrie bis zu Zulieferfirmen für europäische Automobilkonzerne breit gemacht hatte), am 14. Januar nur noch die überstürzte Flucht ins Exil - nicht ohne vorher noch Goldbarren im Wert von 45 Millionen Euro aus den Tresoren der Staatsbank eingesackt zu haben.

Doch nun bestätigt sich in Tunesien die alte Erfahrung früherer Revolutionen: die Profiteure des bisherigen Unterdrückungssystems treten nicht freiwillig ab, wenn das Volk sie nicht länger ertragen will. Sie versuchen Ballast abzuwerfen, um zu retten, was von den Pfründen und der bisherigen Macht noch zu retten ist. Da muss der "Kaiser" schon mal gehen, damit seine bisherigen Komplizen so tun können, als ob sie zu einem Neuanfang bereit wären. Der von Ben Ali ins französische Exil vertriebene Mediziner und Oppositionspolitiker Moncef Marzouki, Anfang der 90er Jahre Präsident der tunesischen Liga der Menschenrechte (LTDH), hat die am 17. Januar bekanntgegebene neue "Regierung der nationalen Einheit" als "Maskerade" bezeichnet: "Tunesien hätte Besseres verdient: 90 Tote, vier Wochen echte Revolution, um zu was zu kommen? Zu einer Regierung, die von nationaler Einheit nur den Namen hat, weil sie in Wirklichkeit aus den Mitgliedern der alten Partei der Diktatur, der RCD besteht", die "alle wichtigen Posten behalten hat, darunter das Innenministerium, das mutmaßlich die kommenden Wahlen organisieren soll".

In der Tat behalten in der von Regierungschef Ghannouchi ernannten "Übergangsregierung" acht Mitglieder der bisherigen "Präsidentenpartei" RCD weiter ihre Posten, und zwar die wichtigsten: Innen-, Außen-, Verteidigungs- und Finanzministerium. Auch Ghannouchi selbst war seit mehr als 20 Jahren ein treuer Parteigänger und Mittäter und seit 11 Jahren der Regierungschef des gestürzten Diktators. Ganze drei Posten in dem insgesamt 19 Minister umfassenden neuen Kabinett erhalten die Chefs der drei "legalen Oppositionsparteien": das Ministerium für regionale Entwicklung, das Gesundheitsministerium und das Ministerium für Hochschulausbildung. Diese "Oppositionsparteien" waren vom Ex-Staatschef geduldet worden, weil sie sich mit gelegentlicher gemäßigter Kritik als "pluralistische" Staffage für sein diktatorisches Regime verwenden ließen. Zu ihnen gehört auch die Partei namens "Ettajdid" ("Erneuerung"), die in den Medien als "ex-kommunistisch" dargestellt wird. Tatsächlich war diese Partei von Ben Ali 1993 zugelassen worden, nachdem sie sich im Rahmen eines Auflösungsprozesses der früheren KP Tunesiens gebildet und auf einem Parteitag vom "Kommunismus" losgesagt hatte. Dagegen war die illegale "Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens" (KAPT) zu den Verhandlungen über die Regierungsbildung gar nicht erst eingeladen worden.

Entscheidend wird nun sein, ob der Widerstand gegen diese Maskerade einer "Übergangsregierung" in nächster Zeit doch noch echte Fortschritte in Richtung eines tatsächlichen Machtwechsels und wenigstens Garantien für tatsächliche demokratischen Rechte und Freiheiten für die Volksmassen durchsetzen kann. Erst damit könnten Voraussetzungen für die Durchsetzung eines Kurses entstehen, der auch auf eine Änderung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse der Menschen abzielt. Das wird letztlich auch die Frage nach den Eigentumsverhältnissen an den wirtschaftlichen Reichtümern des Landes nicht umgehen können.

Im Gegensatz zur "besorgten", auf "Ruhe und Ordnung" und auf "Dialog" (mit den alten Machthabern) drängenden Haltung der Führungskreise der EU einschließlich Frankreichs Staatschef Sarkozy und Kanzlerin Merkel können Europas Demokraten und Linke über den Sturz des verhassten Staatschefs Ben Ali nur Freude empfinden. Ihre Solidarität gilt auch weiterhin den Demokraten Tunesiens, die darum kämpfen, dass ihre Revolution nicht in einem bloßen Wechsel des regierenden Personals versandet.

txt: G. Polikeit (Vorabdruck aus UZ)

siehe auch
Erklärung der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens

Solidaritäterklärung der Europäischen Linken

Aufruhr des Volkes in Tunesien