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alt19.11.2010:  Mit dem Ende der Amtszeit des alten Parlaments Venezuelas im Januar 2011, und dem danach wirksam werdenden Verlust der Zweidrittel-Mehrheit der Regierungspartei PSUV von Staatspräsident Hugo Chavez, verstärken sich die Forderungen und Anstrengungen verschiedener linker Kräfte und der Volksmassen Venezuelas, noch wichtige Maßnahmen und Entscheidungen im eigenen Interesse und gegen die bürgerlichen Kräfte voran zu bringen bzw. durchzusetzen. In dieser Woche werden Forderungen nach weiteren Verstaatlichungen im Vordergrund stehen, vor einer Woche ging es um Rechte und Machtpositionen der Arbeiterklasse.

Tausende venezolanische Arbeiter gingen am Dienstag (9.11.) in Caracas auf die Straße, um eine größere Einflussnahme in der aufkeimenden sozialistischen Wirtschaft ihres Landes einzufordern. Die teilnehmenden Arbeiter, Gewerkschaftsvertreter, Mitglieder linker Parteien und anderer beliebter volksnaher Organisationen zogen mit lautstarken Forderungen und Spruchbändern, auf denen zu lesen war "Weder Kapital noch Bürokratismus - mehr Sozialismus und mehr Revolution"  mehrere Stunden durch das Zentrum der Hauptstadt.

Ziel war vor allem der Sitz der Nationalversammlung - den Abgeordneten wurde ein Dokument mit den Forderungen der Gewerkschaften überreicht, und ein paar hundert Meter weiter der Amtssitz des Vizepräsidenten - dort traf sich eine Delegation der Demonstranten mit der für die nationalisierten Betriebe zuständigen Regierungskommission.

Organisiert und aufgerufen zu dieser Großdemonstration hatte die Gewerkschaft UNETE (Nationale Union der Arbeiter), die zudem auch Dachverband einer Reihe von kleineren, linken Gewerkschaften ist. Die UNETE forderte die umgehende Verabschiedung des inzwischen seit etwa sieben Jahren diskutierten neuen Arbeitsgesetzes und die Stärkung der Arbeitermacht in den in den letzten Jahren nationalisierten Unternehmen und Industrien.

Eine der Vorsitzenden der UNETE und deren Sprecherin auf der Demonstrantion, Marcela Maspero, erläuterte. "Das  neue Gesetz ist ein lebenswichtiges Werkzeug für die venezolanische Arbeiterklasse, um die seit langem existierende und weiter fortgeführte Ausbeutung am Arbeitsplatz zu beenden. Unser Ziel ist es, die Verabschiedung des neuen Arbeitsgesetzes durch die Nationalversammlung sicher zu stellen, um so Würde und Achtung in unsere Produktionsverhältnisse hinein zu bringen und die weitere Entwicklung des revolutionären Prozesses in die Hände der venezolanischen Arbeiter zu legen."

Marcela Maspero wirkte bereits im Jahre 2000 bei der Koordination der pro-Chavez orientierten Bolivarischen Arbeitermacht mit und sie spielte eine wichtige Rolle bei der Bildung der UNETE (im Frühjahr 2003), nachdem die bisherige Traditionsgewerkschaft CTV eine Reihe von Generalstreiks gegen die Chavez-Regierung Seite an Seite mit der größten Handelskammer des Landes (Fedecamaras) organisiert hatte.

Einige der am meisten Befürwortung findenden Bestandteile des beabsichtigten Arbeitsgesetzes, die bei der jetzigen Großdemonstration im Zentrum standen sind: Abschaffung von Arbeitsverhältnissen durch Subunternehmen (Leiharbeit); Verpflichtung aller Arbeitgeber - privat oder öffentlich - zur Festanstellung der Arbeiter mit sicheren Einkommen; Beschränkung des gesetzlichen Arbeitstages auf eine Dauer von 8-6 Stunden bei gleichzeitiger Gewährung sowohl der Zeit der Arbeiter für die Tätigkeit in den Arbeiterräten, als auch der Zeit für politische Bildung; Einrichtung eines nationalen Fond zur Stützung der Arbeiter, der auch Zahlungen an diejenigen Arbeiter leisten soll, deren gesetzliche Rechte durch ihre früheren Artbeitgeber vor und während des Beginns der Bolivarischen Revolution missachtet wurden.

Marcela Maspero, die Nationale Koordinatorin der UNETE, beschrieb die Enttäuschung der Arbeiter über die Nationalversammlung: "Die ersten Pläne für das neue Arbeitsgesetz entstanden 2003. Dann gab es eine Diskussionsrunde mit Tausenden von Verbesseungsvorschlägen, die von den Arbeitern selbst kamen. Aber die Antworten der verantwortlichen Stellen waren enttäuschend. Diese Stellen behaupteten, es sei nötig Übereinstimmung zu dem Gesetz herzustellen. Aber sie suchten keine Übereinstimmung mit den Arbeitern, die durch dieses Gesetz ja am meisten betroffen sein werden."

Maspero bekräftigte, dass die venezolanische Arbeiterklasse von der Nationalversammlung die Verabschiedung des Gesetzes zum Ende des Jahres einfordert, damit die Blockaden unmöglich werden, die vermutlich in der neuen Nationalversammlung durch die vergrößerte anti-Chavez-Minderheit aufgebaut werden.

Ein anderes koordinierendes Mitglieder der UNETE auf nationaler Ebene und Mitglied der linken Bewegung der Arbeiterklasse 'Cruz Villegas' meinte: "Das neue Arbeitsgesetz muss alle Arbeitgeber, gleich ob privat oder staatlich, welche die Rechte der Arbeiter verletzen, streng bestrafen. Das Recht auf Arbeit muss Allen in dem neuen Gesetz garantiert werden, ebenso wie das Recht auf würdige und passende Arbeitsbedingungen für behinderte Arbeiter, junge in das Arbeitsleben eintretende Leute und noch einige andere. Das neue Gesetz muss auch Aussagen geschlechtsspezifischer Art machen. Richtlinien für Sanktionen bei Diskriminierungen von Frauen sind zu erlassen, Regeln für gerechte Regelungen bei Auszeiten wegen Mutterschaft oder Vaterschaft sind zu entwickeln, die Ruhezeiten während der Schwangerschaft und nach der Geburt sind auszuweiten bei Sicherung der Gehaltszahlungen und der Rückkehr auf den Arbeitsplatz in gleicher Funktion wie vorher, usw."

Zur Verabschiedung durch die Nationalversammlung steht ebenfalls ein radikaler Bestandteil des neuen Arbeitsgesetzes an, der als 'Sondergesetz der Sozialistischen Arbeiterräte' bekannt ist und im Jahre 2007 durch die Kommunistische Partei Venezuelas (KPV) vorgeschlagen wurde. Dieses Gesetz würde in allen staatlichen und privaten Arbeitsstätten und denen mit gemischtem Kapital wichtige Entscheidungsbefugnisse in allen Produktions-, politischen, verwaltungstechnischen und sozio-kulturellen Angelegenheiten in die Hände von Arbeiterräten geben. Diese Räte sollen die existierenden Gewerkschaften und ihre organisatoriaschen Strukturen nicht ersetzen. Vielmehr sind sie dazu gedacht, die Arbeiterkontrolle in jeder Arbeitsstätte zu festigen, wo organisierten Arbeitern die gesetzlichen Hebel fehlen, ihren kollektiven Willen durchzusetzen.

Andere Forderungen der Demonstranten am 10.11. beinhalteten: flächendeckende Gehaltserhöhungen, um der hohen Inflation entgegen zu wirken; weitere Verstaatlichungen in einer Anzahl von Industrien, wo es dauernd zu Arbeitskonflikten kommt; die Streichung der Schulden von Beschäftigten im staatlichen Gesundheits- und Kulturbereich gegenüber der Regierung; die Neuverhandlung von Tarifverträgen der Beschäftigten im staatlichen Wirtschaftssektor mit der Regierung.

Als Reaktion auf die jüngsten Verstaatlichungen der Regierung von Hugo Chavez und anhaltender Basisunterstützung radikaler Arbeiter und ihrer politischen Parteien, forderten viele Arbeiter in dem Protestmarsch vom 10.11. dass die Bolivarische Revolution weiter gehen müsse, als lediglich und einfach nur ein neues Arbeitsgesetz zu erlassen. Vielfach wurde daher ein Wandel von "Sozialismus in Theorie und Debatte" zu "Sozialismus in Taten" eingeklagt.

"Wir würden unser Unternehmen gerne nationalisiert, sozialisiert sehen", sagte Vicente Ponte Moreno, der von seinen Arbeitskollegen gewählt und bestimmt wurde, Unfälle an den Arbeitsplätzen in Empresa Ceramica del Tuy, einer keramischen Fabrik in Privatbesitz im Bundesstaat Miranda, zu verhindern. "Wir kennen das Unternehmen gut, wir wissen, wie es zu leiten ist, wir wissen, dass wir es leiten können, aber wir brauchen dazu die Unterstützung unserer Forderungen durch die Regierung."

Juan Paiva, der Regionalkoordinator der UNETE für die Städte Caracas und Miranda, ergänzte Morenos Feststellungen: "Wir wurden jahrelang belogen. Administratoren, Techniker, Studierte, die neuen Medien, sie alle sagten uns, dass wir zur Leitung von Gesellschaften, Industrien und Produktion unfähig seien. Aber schaut uns jetzt an - Supermärkte, Stahl- und Aluminiumindustrie, Glas, Papier und Erdöl. Mit Hilfe dieser Regierung Venezuelas haben die Arbeiter endlich die Gelegenheit, die Macht zu ergreifen."

Und Marcela Maspero von der UNETE drückte dieses Selbstbewusstsein ebenfalls aus, als sie während der Großdemonstration an den Staatspräsidenten gerichtet ausrief: "Die Arbeiterklasse geht mit dir, Chavez. Aber wenn es um Angelegenheiten der Arbeiterklasse geht, dann möchten wir auch selbst die Entscheidungen treffen."

Auch die Arbeiter staatlicher Unternehmen haben in letzter Zeit verstärkt größere Arbeiterkontrolle in ihren Wirtschaftsbereichen eingefordert. Diese Arbeiter - von der Kaffee verarbeitenden Gesellschaft Fama de Americe über den Lebensmittelgroßhandel Mercal bis hin zum Fernsehsender VTV - erhoben den Ruf nach einem Ende der Eingriffe von reformistischen Staatsbeamten, die die Einrichtung von Arbeiterkontrollen in ihren Gesellschaften hintertrieben.

Joel Garcia ist Generalsekretär der Vereinigung der Erdölarbeiter in der Region Orinoco (Sutrapetrorinoco), vertritt über 2.100 Industriearbeiter der staatlichen Ölindustrie im Staate Anzoátegui und ist zudem Gewerkschaftssekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas in Anzoátegui. Er sagte zur aktuellen Entwicklung:

"Wir haben die Entwicklung zum Sozialismus noch nicht wirklich begonnen. Wir sind den Weg von Privatkapital zu sozialisiertem Kapital gegangen. Aber die Arbeiterklasse Venezuelas bleibt weiterhin entfremdet, ausgebeutet, misshandelt. In Venezuela empfinden wir keine innere Pein, wenn wir am Arbeitsplatz oder durch unsere politischen Vertreter mit Füßen getreten werden. Die Kultur von Vetternwirtschaft, Manipulation und Begünstigung ist so stark, dass wir diese Art von Verhalten und Handlungen fast (als normal) erwarten. Was wir dringend entwickeln müssen - im Kampf - ist ein klares und festes Klassenbewusstsein, welches uns unsere Klassenfeinde erkennen lässt - einschließlich derer, die im Namen der Bolivarischen Revolution gegen unsere Interessen arbeiten."

Besonders in den beiden vergangenen Jahren hat Staatspräsident Hugo Chavez 'von oben' versucht, die Wirtschaft, die Produktionsweisen und die Gestalt des Staates zu verändern. Nicht wenige linke Politiker und Vertreter der Arbeiterklasse Venezuelas sehen jedoch mit Sorge, dass diese Vorhaben nicht wirklich mit Kraft, Leidenschaft und Intelligenz der Arbeiterklasse selbst voran getrieben werden. So besteht die Gefahr, dass die Bürokratie der staatlichen Verwaltung - die Bourgeoisie kontrolliert immer noch einen großen Teil des venezolanischen Staates - einen spürbaren Fortschritt der von Chavez gewollten Veränderungen verhindern wird.

Quelle: venezuelanalysis