Literatur und Kunst

Gerd-SemmerZum 50. Todestag von Gerd Semmer 
20.11.2017: Der politische Protest in der Bundesrepublik vor 1968 ist in der öffentlichen Erinnerung kaum präsent. Gerade im Vorfeld der zu erwartenden Erinnerungen der 68er Aktivisten im kommenden Jahr wird die Legende wieder aufgewärmt werden, dass erst mit der Studentenrevolte und der Lehrlingsbewegung außerparlamentarischer Protest auf der gesellschaftlichen Bühne in Erscheinung trat. Die historische Realität sieht anders aus.

Es gab in der BRD seit Anfang der 50er Jahre eine vielgestaltige Bewegung gegen die Wiederaufrüstung und atomare Bewaffnung oder antifaschistischen Protest gegen die vielfach bruchlose Fortexistenz von brauner nazistischer Gesinnung in Staat und Gesellschaft.

Einer, der diesen außerparlamentarischen Kämpfen für eine andere Republik seine poetische Stimme gab, war Gerd Semmer (1919-1967), dessen 50. Todestag sich am 12. November jährte.

Ohne seine Texte wären die frühen Ostermärsche stumm geblieben

Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik in Wien wurde er Regieassistent bei Erwin Piscator. Später war er Redakteur für die humoristisch-satirische Zeitung "Michel", in der bis 1957 seine satirischen Gedichte und Kurzprosa erscheinen. 1958 veröffentlicht er "Ça ira! 50 Lieder, Chansons und Couplets aus der Französischen Revolution 1789-1795". Diese werden kurze Zeit darauf von dem Liedermacher Dieter Süverkrüp vertont und im „pläne verlag“ herausgebracht. Es folgten Anfang der 60er Jahre „pläne“-Platten mit "Liedern gegen die Bombe" und "Ostersongs", zu denen Gerd Semmer viele Texte geschrieben hat.

Neben eigenen Texten veröffentlichte Semmer auch zahlreiche Übersetzungen, z.B. von Liedern des europäischen antifaschistischen Widerstands und von französischen Chansons wie etwa Boris Vians „Deserteur“. Und gemeinsam mit dem Schriftsteller André Müller sen. gab er einen Band mit 99 Brecht-Anekdoten heraus: Geschichten vom Herrn B.

Plattencover-Ca-IraDieter Süverkrüp erinnert sich an seine Zusammenart mit Semmer bei den „Liedern der Französischen Revolution: „Bei dem Stichwort 'Politisches Lied' mussten damals viele Leute (ich auch) zwangsläufig an das denken, was sie in der Art überhaupt gehört hatten; und das waren fast ausschließlich die Elaborate aus der Nazizeit. Was Wunder also, dass man aufs Stichwort assoziierte: Dröhnender Bierernst,  kitschiges Heroentum, Kraftmeierei. Dann aber das! Auf  einmal stellte  sich heraus, politisch sich einmischende Gesänge können durchaus heiter sein, witzig, phantasievoll, optimistisch und zwar gerade dadurch, dass sie konkret auf Veränderung zielen, Übelstände benennen, Mächtige verspotten, Siege über eben diese feiern, mit ihrer Begeisterung nicht hinterm Berge halten - und auch nicht mit ihrem Zorn.“

Man muss auf die Risse achten

Von Semmer selbst überliefert ist folgende Aussage: „Die Geschichte bewegt sich in Sprüngen und Schüben, langsam wie ein Gebirge. Die Fassade scheint stabil; aber unter dem Putz mehren sich die Risse. Plötzlich kommt eine Erschütterung, und alles kracht auseinander. Man muss auf die Risse achten, das sind: die Widersprüche in der Gesellschaft. So wie es ist, bleibt es nicht, und  das Sichere ist nicht sicher". Aber man muss auch Bescheid wissen für den Erdstoß. Man muss wissen, was die Risse sind und bedeuten. Darum soll man sich an die kämpfenden Vorfahren erinnern, die auf uns hofften.“

Angesichts der aktuellen europäischen Aufrüstungspläne und des Einzugs einer offen rassistischen Partei in den Bundestag sind die von Semmer in seinen Gedichten gesetzten Themen leider auch nach über sechzig Jahren immer noch aktuell, wie z.B. sein Gedicht „November“ aus dem Jahre 1954 belegt.


November

Wir hatten einst im schönen Vaterlande,
Was ich – aus Kenntnis – Schweinebande heiße.
Als wir befreit von dieser braunen Sch-ande,
War ausgemacht, dass sie uns nicht mehr beiße.

Doch erstens kommt es anders, als man denkt.
Und zweitens ist da jemand, der das lenkt.

Ich muss euch ihre Namen nicht bekennen.
Und wem der Stiefel passt, der zieht ihn an.
Ich bitte euch, es Schweinerei zu nennen,
Dass diese Bande wieder wühlen kann.

Denn erstens kommen wir drauf, wer das lenkt,
Und zweitens kommt's dann anders, als ihr denkt!

                                                  Gerd Semmer


Literaturhinweis: Einen Überblick über Semmers Schaffen (mit vielen großformatigen Fotos und Zeichnungen) vermittelt der Band: Gerd Semmer. Wir wollen dazu was sagen - Texte für eine andere Republik (1949-1967). Hg. von Udo Achten, Oberhausen 1999, Asso Verlag

txt: Günther Stamer

„So wie es ist, bleibt es nicht“

Zum 50. Todestag von Gerd Semmer

 

Der politische Protest in der Bundesrepublik vor 1968 ist in der öffentlichen Erinnerung kaum präsent. Gerade im Vorfeld der zu erwartenden Erinnerungen der 68er Aktivisten im kommenden Jahr wird die Legende wieder aufgewärmt werden, dass erst mit der Studentenrevolte und der Lehrlingsbewegung außerparlamentarischer Protest auf der gesellschaftlichen Bühne in Erscheinung trat. Die historische Realität sieht anders aus.

 

Es gab in der BRD seit Anfang der 50er Jahre eine vielgestaltige Bewegung gegen die Wiederaufrüstung und atomare Bewaffnung oder antifaschistischen Protest gegen die vielfach bruchlose Fortexistenz von brauner nazistischer Gesinnung in Staat und Gesellschaft.

 

Einer, der diesen außerparlamentarischen Kämpfen für eine andere Republik seine poetische Stimme gab, war Gerd Semmer (1919-1967), dessen 50. Todestag sich am 12. November jährte.

 

Ohne seine Texte wären die frühen Ostermärsche stumm geblieben

 

Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik in Wien wurde er Regieassistent bei Erwin Piscator. Später war er Redakteur für die humoristisch-satirische Zeitung "Michel", in der bis 1957 seine satirischen Gedichte und Kurzprosa erscheinen. 1958 veröffentlicht er "Ça ira! 50 Lieder, Chansons und Couplets aus der Französischen Revolution 1789-1795". Diese werden kurze Zeit darauf von dem Liedermacher Dieter Süverkrüp vertont und im „pläne verlag“ herausgebracht. Es folgten Anfang der 60er Jahre „pläne“-Platten mit "Liedern gegen die Bombe" und "Ostersongs", zu denen Gerd Semmer viele Texte geschrieben hat.

 

Neben eigenen Texten veröffentlichte Semmer auch zahlreiche Übersetzungen, z.B. von Liedern des europäischen antifaschistischen Widerstands und von französischen Chansons wie etwa Boris Vians „Deserteur“. Und gemeinsam mit dem Schriftsteller André Müller sen. gab er einen Band mit 99 Brecht-Anekdoten heraus: Geschichten vom Herrn B.

 

Dieter Süverkrüp erinnert sich an seine Zusammenart mit Semmer bei den „Liedern der Französischen Revolution: „Bei dem Stichwort 'Politisches Lied' mussten damals viele Leute (ich auch) zwangsläufig an das denken, was sie in der Art überhaupt gehört hatten; und das waren fast ausschließlich die Elaborate aus der Nazizeit. Was Wunder also, dass man aufs Stichwort assoziierte: Dröhnender Bierernst,  kitschiges Heroentum, Kraftmeierei. Dann aber das! Auf  einmal stellte  sich heraus, politisch sich einmischende Gesänge können durchaus heiter sein, witzig, phantasievoll, optimistisch und zwar gerade dadurch, dass sie konkret auf Veränderung zielen, Übelstände benennen, Mächtige verspotten, Siege über eben diese feiern, mit ihrer Begeisterung nicht hinterm Berge halten - und auch nicht mit ihrem Zorn.“

 

Man muss auf die Risse achten

 

Von Semmer selbst überliefert ist folgende Aussage: „Die Geschichte bewegt sich in Sprüngen und Schüben, langsam wie ein Gebirge. Die Fassade scheint stabil; aber unter dem Putz mehren sich die Risse. Plötzlich kommt eine Erschütterung, und alles kracht auseinander. Man muss auf die Risse achten, das sind: die Widersprüche in der Gesellschaft. So wie es ist, bleibt es nicht, und  das Sichere ist nicht sicher". Aber man muss auch Bescheid wissen für den Erdstoß. Man muss wissen, was die Risse sind und bedeuten. Darum soll man sich an die kämpfenden Vorfahren erinnern, die auf uns hofften.“

 

Angesichts der aktuellen europäischen Aufrüstungspläne und des Einzugs einer offen rassistischen Partei in den Bundestag sind die von Semmer in seinen Gedichten gesetzten Themen leider auch nach über sechzig Jahren immer noch aktuell, wie z.B. sein Gedicht „November“ aus dem Jahre 1954 belegt.

 

 

 

November

 

Wir hatten einst im schönen Vaterlande,

Was ich – aus Kenntnis – Schweinebande heiße.

Als wir befreit von dieser braunen Sch-ande,

War ausgemacht, dass sie uns nicht mehr beiße.

 

Doch erstens kommt es anders, als man denkt.

Und zweitens ist da jemand, der das lenkt.

 

Ich muss euch ihre Namen nicht bekennen.

Und wem der Stiefel passt, der zieht ihn an.

Ich bitte euch, es Schweinerei zu nennen,

Dass diese Bande wieder wühlen kann.

 

Denn erstens kommen wir drauf, wer das lenkt,

Und zweitens kommt's dann anders, als ihr denkt!

 

                                                           Gerd Semmer

 

Literaturhinweis: Einen Überblick über Semmers Schaffen (mit vielen großformatigen Fotos und Zeichnungen) vermittelt der Band: Gerd Semmer. Wir wollen dazu was sagen - Texte für eine andere Republik (1949-1967). Hg. von Udo Achten, Oberhausen 1999, Asso Verlag

txt: Günther Stamer