Internationales

Kerem Schamberger (marxistische linke) berichtet aus Kurdistan

update, 22.03.2015, 22:00 Uhr

Newroz-Feier – Ein Signal für den Frieden

Nun ist sie vorbei, die mit Spannung erwartete Newroz-Feier 2015. Die Eindrücke überwerfen sich: Mit 10.000 Jugendlichen durch die Stadt demonstrieren, heftiger Regensturm und die Verlesung von Öcalans Neujahrsbotschaft. Aber eines nach dem anderen: Begonnen hatte der Newroz-Tag für uns vor dem Stadteilbüro der DBP im Baglar-Viertel. Dort startete eine von vielen Jugenddemonstrationen der YDG-H (Patriotisch-Revolutionäre Jugendbewegung) zum Festivalgelände. Wir starteten mit knapp 1.000 anderen kämpferischen Jugendlichen und als wir, durch die Viertel ziehend, ankamen, waren wir mehr als 10.000 junge Frauen und Männern, die unter „Kurdistan wird zum Grab des Faschismus“-Rufen auf den Platz einzogen.

 

Trotz kalten Wetters und nur knapp zehn Grad waren bereits um neun Uhr hunderttausende Menschen gekommen. Die Veranstalter sprechen im Verlaufe des Tages von insgesamt drei Millionen. Das ist sicher etwas übertrieben. Viele alte Menschen konnten nicht kommen, da die Wege nass und matschig waren und es nicht genügend Sitzflächen zum Ausruhen gab. Trotzdem waren die unübersehbare Menge von Menschen beeindruckend.

Im Vorfeld der Newroz-Feierlichkeiten in Kurdistan sorgten Polizeiübergriffe auf die Feiern in Batman (kurdisch Elih) und Van (kurdisch Wan) für Aufregung. Diese dienten der Provokation, um mediale Bilder zu erzeugen, die den Friedensprozess beschädigen könnten. Die Bevölkerung ließ sich aber nicht provozieren und blieb in diesen Städten ruhig. In Diyarbakir konnte sich die Polizei keine Provokation erlauben, da sie sonst die Kontrolle über die Stadt verloren hätte. Dafür war die Angst vor Anschlägen besonders groß. So gab es am Tag zuvor einen dramatischen Doppelselbstmordanschlag auf spontane Newrozfeiern im westkurdischen Heseke (Rojava) mit bislang mehr als 45 Toten. Obwohl die YPG-Sicherheitskräfte dort aufgrund der bedrohlichen Sicherheitslage jegliche Newroz-Feiern untersagt hatten, feierten viele Menschen spontan in den Straßen der Stadt und wurden so zum Ziel der Selbstmordattentäter. Vermutlich steckt der IS dahinter, genauere Infos gibt es dazu bisher allerdings nicht. In der internationalen Presse spielte dieser grausame Anschlag so gut wie keine Rolle.

Entsprechend hoch waren die Befürchtungen, dass es auch in Diyarbakir zu Anschlägen kommen könnte. Und so standen dutzende GenossInnen der DBP an den Eingängen zum Gelände und tasteten jeden ab und schauten sehr genau in Rucksäcke und Taschen. Dabei hatten sie immer ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht und eine Entschuldigung auf den Lippen.

Als wir auf den Platz kommen, zerstreut sich unsere Gruppe sofort. Man wird von den Menschenmassen buchstäblich auseinandergerissen und hat keine Chance zusammenzubleiben. Mir fällt sofort die internationalistische Atmosphäre auf, die die Feier prägt. So ist die Bühne mit Bildern von MärtyrerInnen der kurdischen Bewegung „geschmückt“. Besonders prominent ist dabei Ivana Hoffmann hervorgehoben. Die junge Kommunistin aus Duisburg starb vor drei Wochen bei der Verteidigung eines christlichen Dorfes in Rojava gegen die IS-Banden. Neben ihr befindet sich ein Porträt der türkischen Kommunistin Sibel Bulut, die in den bewaffneten Reihen der MLKP (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei) im Kampf gegen den IS ebenfalls vor kurzem umgekommen war. Auch der verstorbene junge griechisch-stämmige Engländer Erik Konstandino Scurfield hatte einen Platz auf der Bühnenfront bekommen. Drei InternationalistInnen, die für den Aufbau einer fortschrittlichen Gesellschaft bereit waren ihr Leben zu geben. Dafür gebührt ihnen der größte Respekt.

Hoch über der Bühne erheben sich zwei symbolische Ortschilder mit der Aufschrift „Herzlich Willkommen in Sengal“ und „in Kobane“. Ein Gruß an die dortigen Menschen die gegen die imperialistischen Horden des IS standhalten und diese bekämpfen. Die Moderation der Veranstaltung war überwiegend auf kurdisch, aber auch oft auf türkisch und arabisch, um so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Auch musikalisch war die Stimmung sehr internationalistisch. Besonders viele ArbeiterInnen-Lieder wurden von den Bands und in den Umbaupausen gespielt, so unter anderem die Internationale, Bella Ciao und die "Arbeiter von Wien" auf kurdisch.

Neben den verschiedenen Organisationen der kurdischen Bewegung (Frauenbewegung KJA, Jugendbewegung YDG-H, Partei der Demokratischen Regionen DBP, etc.) befanden sich auch viele sozialistische Organisationen wie die EMEP (in Deutschland als DIDF bekannt), Partizan, die Sozialistische Partei der Unterdrückten (ESP, der illegalisierten MLKP nahestehend). Die frühere Vorsitzende der ESP, Figen Yüksekdag, ist übrigens seit 2014 neben dem bekannten kurdischen linken Politiker Selahattin Demirtas die Co-Vorsitzende der HDP. Dies stellt eine Verschiebung der politischen Koordinaten dieser Partei nach links dar. Auch Anarchisten und die AktivistInnen der queeren LGBTI-Organisation Keskesor kamen mit ihren wehenden Regenbogenfahnen auf den Platz. Sie trugen ein Transparent auf dem "Der Weg zu einer freien Gesellschaft führt über die Freiheit der LGBTI" stand.

Gegen Mittag wurde die feiernde Menge von einem starken Regensturm heimgesucht, der die umliegenden Wiesen in wahre Schlammbäder verwandelte und zehntausende Regenschirme aufgehen ließ. Passenderweise verzogen sich genau zu Beginn der Verlesung der mit Spannung erwarteten Nachricht Öcalans auf einen Schlag die Regenwolken und die Sonne brach das erste Mal durch die dicke Wolkendecke hindurch.

Die Nachricht beinhaltet, entgegen der Erwartungen, keine neuen Informationen. Öcalan fordert die PKK auf in diesem Jahr einen Parteitag abzuhalten und Schritte zur Entwaffnung zu diskutieren. Voraussetzung dafür sei aber die Erfüllung eines 10-Punkte-Forderungskatalogs, den der linke Abgeordnete Sirri Süreyya Önder auf einer ersten gemeinsamen Pressekonferenz mit der AKP-Regierung im Februar vorgestellt hatte. Darin wird u.a. gefordert, die Verfolgung kurdischer AktivistInnen unter dem Vorwurf Mitgliedschaft in der KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans) zu beenden und Verhandlungen über eine neue demokratische Verfassung aufzunehmen. In der türkischen und internationalen Presse wurde der Aufruf von Öcalan so interpretiert, die Waffen auf jeden Fall niederzulegen. Dass er aber die Erfüllung des 10-Punkte-Katalogs als Voraussetzung genannt hatte, blieb unerwähnt.

Laut Öcalan müsse gleichzeitig die „Bildung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission bestehend aus Parlamentsabgeordneten und der Beobachtungsdelegation“ vorangetrieben werden, die die dunklen Seiten des 40-jährigen Krieges auf beiden Seiten aufarbeitet.

Hervorzuheben ist die antikapitalistische Ausrichtung der Botschaft. So schreibt Öcalan zur Analyse der Situation im Nahen Osten: „Die Krise, welcher durch die neoliberale Politik des imperialistischen Kapitalismus und der despotischen lokalen Kollaborateure auf der ganzen Welt der Weg geebnet worden ist, vollzieht sich in unserer Region und unserem Land auf eine sehr destruktive Weise. Die ethnische und religiöse Vielfalt unserer Völker und Kulturen wird in dieser Krisensituation mit sinnlosen und rücksichtslosen Identitätskriegen vernichtet.“

Auch die nach wie vor anhaltende Politik des Teile-und-Herrsche prangert er an: „Die Realität des kapitalistischen Imperialismus der vergangenen zweihundert Jahre, besonders des letzten Jahrhunderts, ist folgende: Er schottet, entgegen ihre eigentlichen Natur, Völker und Religionsgemeinschaften auf Grundlage des Nationalismus der Nationalstaaten nach innen ab, macht sie zu gegenseitigen Feinden, und setzt sein eigenes Bestehen gnadenlos auf Basis der 'Teile-und-Herrsche' Politik bis in unsere Gegenwart fort.“

Für Öcalan ist der Islamische Staat ein Produkt dieser Politik der imperialistischen Mächte und ihrer Einflussnahme auf den Mittleren Osten: „Wir müssen begreifen, dass die Folge des Beharrens der imperialistischen Mächte auf ihre Interessen im Mittleren Osten die Brutalität des Islamischen Staates darstellt“

Die komplette Rede Öcalans findet sich auf deutsch auf der Website des kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad.

Nach der Verlesung der Rede herrscht großer Jubel und die Halay-Tänze gehen in noch größerer Runde weiter. Trotz des positiven Verlaufs des Fest ist mir unangenehm aufgefallen, dass in keiner der Reden die Polizeigewalt bei den vorherigen Newroz-Festen in Batman und Van auch nur erwähnt wurde und das dramatische Attentat auf die Feier in Heseke auch keine Rolle spielt. Vielleicht wollte man eine Panik auf dem sehr gedrängten Platz verhindern, aber ich denke es hätte zumindest erwähnt und der Opfer gedacht werden.

In der anschließenden medialen Diskussion, wird die Feier als Türöffner für einen dauerhaften Frieden im Land gesehen. Übersehen wird dabei oft, dass die Bedingungen für eine Niederlegung der Waffen in einem 10-Punkte-Programm auf dem Tisch liegen und nun auch die Regierung endlich erste Schritte gehen muss. Immerhin hat Öcalan nun ein eigenes fünfköpfiges Sekretariat auf der Gefängnisinsel Imrali erhalten, das aus zu lebenslanger Haft verurteilten PKKlern besteht. Außerdem soll er in Kürze Besuch von einer 16-köpfigen Delegation aus Politikern und Journalisten bekommen.

Hoffentlich behalten die Medien recht, denn Erdogan, der seit August 2014 eigentlich die Rolle eines überparteilichen Staatspräsidenten innehat, scheint die Entwicklung nicht glücklich zu machen. Ständig redet er gegen einzelne Aspekte des Friedensprozesses, so u.a. gegen internationale Beobachtungsdelegationen zum Verlauf des Prozesses, und sorgt sich um Stimmenverluste der AKP bei den Parlamentswahlen im Juni 2015.

Wir wissen, im Endeffekt sind es die Völker, die über ihr Schicksal bestimmen und das kurdische Volk hat auch an diesem Newroz-Tag verdeutlicht, dass es über seine Zukunft selbst(-bewusst) entscheiden wird und dies im Endeffekt nicht den Herren in Ankara oder den Horden des IS überlassen wird, sondern dem Druck der Straße bzw. der Guerilla in den Bergen.

Newroz Piroz be – Ein fröhliches Newroz-Fest euch allen


PS: Heute geht es weiter nach Suruc, an die Grenze von Kobane. Dort wird es vermutlich keine so gute Internet-Verbindung wie hier geben und deshalb auch weniger Berichte.

 

 

update 21.03.2015, 22:00 Uhr:

Mamoste – Muttersprachlicher Unterricht wird Realität  

Am 2. Tag der Delegation standen politische Gespräche und das Kennenlernen von verschiedenen Formen der Organisierung im Vordergrund. Wir führten Gespräche mit der kurdischen Frauenbewegung KJA (Kongress der Frauen Kurdistans) und Lehrern der ersten kurdisch-sprachigen Grundschule.

Da wir mehr als 70 Leute sind, laufen wir zu unseren Terminen, die in verschiedenen Teilen der Stadt stattfinden. Dies bringt die Möglichkeit sich mit anderen TeilnehmerInnen näher zu unterhalten. Ich treffe Laura, SDAJ´lerin aus Gießen. Ihr Beweggrund nach Kurdistan zu kommen, ist die kurdische Freiheitsbewegung kennenzulernen. In Deutschland bestehe zwar eine gute Zusammenarbeit zwischen der SDAJ und der YXK, allerdings würden theoretische Debatten mit den kurdischen GenossInnen nicht geführt.

Sie interessiert sich vor allem für die Kritik der PKK und Öcalans am Marxismus-Leninismus: Ausführliche Debatten in den Jahren 1999 – 2005 haben in der kurdischen Bewegung zu einer Abkehr vom marxistisch-leninistischen Parteiverständnis geführt. Vor allem die ökonomistische Reduktion der Gesellschaftsanalyse wird dabei kritisiert. Die Rolle der Zivilgesellschaft und ihre eigenständige Entwicklung müsse ebenfalls im Zentrum der Gesellschaftsanalyse stehen. Konsequenterweise wird an der Überwindung des Vertikalismus in Partei und Bewegung gearbeitet. Der Basis, die Grundlage der Bewegung, wurden viel mehr Initiativ- und Entscheidungsrechte gegeben, Kampagnen werden von den einzelnen Vereinen vor Ort beschlossen und umgesetzt. Verbindendes Element aller Aktivitäten der Basis sind die theoretischen Schriften Abdullah Öcalans.

Das was die Genossin bisher in Kurdistan erlebt hat, lässt sie „mit offenem Mund dastehen und staunen“. Vor allem die Basisarbeit der Bewegung in jedem Viertel, jedem Dorf und jeder Stadt, die Bevölkerung in Räten zu organisieren, begeistert sie. Davon könne auch SDAJ und DKP noch viel lernen. Ihrer Meinung nach betreiben zu viele Menschen in Deutschland Politik nur als ein Hobby, mit zu wenig Ernsthaftigkeit und nicht als eine alles durchdringende Lebenseinstellung.

Kurdisches Bildungswesen - emanzipatorische Erziehung
Da einige von uns verlorengegangenes Gepäck am Flughafen suchen mussten, konnte ich nicht an dem anscheinend sehr interessanten Gespräch mit der kurdischen Frauenbewegung teilnehmen. Dabei war ich dann aber wieder bei dem Treffen mit LehrerInnen der ersten kurdischsprachigen Grundschule. Diese betonten, dass die Sprache der Kurden seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht anerkannt wird und diese versuchte Assimilierung auch eine Form des Imperialismus sei. Dagegen gab und gibt es bis heute großen Widerstand. Eine Form dieses Widerstandes der kurdischen Bewegung besteht darin, parallel zu den staatlichen Bildungsstrukturen ein eigenes Bildungssystem aufzubauen. So wurden im letzten Jahr in drei Pilotregionen (Diyarbakir, Yüksekova und Cizre) kurdisch sprachige Grundschulen eröffnet. Bei Einweihung der Schule in Diyarbakir im Baglar-Viertel vor sechs Monaten, Mitte September, waren Pressevertreter aus der gesamten Region und auch aus dem Ausland vertreten. Doch noch am selben Tag schritt die Polizei ein: Die Eröffnungsfeier, an der mehrere dutzend Kinder teilnahmen, wurde mit Tränengas beschossen und die Menschen aus dem Haus geprügelt. In der Woche vom 15. - 22. September 2015 wurde die Schule insgesamt 4 mal versiegelt und mehr als 40 Menschen festgenommen. Doch die LehrerInnen wurden kreativ und setzten ihren Unterricht vor dem Gebäude auf der Straße oder im Pausenhof fort. Die Polizei und die dahinter stehende Schulbehörde sahen ein, dass diesem „Problem“ nicht mit Gewalt beizukommen ist und tolerieren die Schule bisher. Eine offizielle Genehmigung gibt es bis heute nicht und die Schule wird komplett am staatlichen Bildungssystem vorbei organisiert. Von Vorteil ist, dass das Stadviertelparlament (ähnlich einem Bezirksausschuss) fast komplett in der Hand der DBP ist. Dieses hat das moderne Gebäude an den Kurdi-Der (Verein zur Verbreitung der kurdischen Sprache) und die Egitim-Sen (landesweite Erziehungsgewerkschaft, ähnlich der GEW) überschrieben und so können sie nun frei darüber verfügen.

Mittlerweile werden 113 SchülerInnen in fünf 1. Klassen unterrichtet. Dabei wird die Schule nicht klassisch organisiert, sondern im Sinne der Theorien der kurdischen Bewegung. So gibt es keinen Direktor, sondern einen LehrerInnenrat mit einer dreiköpfigen Koordination. Alle Beschlüsse werden nach dem Konsensprinzip gefasst. Außerdem gibt es einen Elternbeirat mit Mitspracherecht. Geplant sind auch SchülerInnenräte, aber da die Kinder noch sehr jung sind, lässt sich dass erst umsetzen, wenn sie in höhere Klassen kommen und älter werden.

Auch der Unterricht wird nach fortschrittlichen Pädagogikkonzepten gestaltet. Es gibt keinen Frontalunterricht beidem der Lehrer die Autoritätsperson ist, alle sitzen im Kreis und die Beteiligung der Kinder am Unterricht ist sehr wichtig. Die Unterrichtsfächer sind die gleichen, wie wir sie auch aus Deutschland kennen. Die Lehrenden haben alle einen Lehramtsabschluss, außerdem sind sie in der kurdischen Sprache ausgebildet. Ihr Gehalt wird über Spenden der Bevölkerung sichergestellt und viele ehrenamtliche HelferInnen unterstützen sie in der täglichen Arbeit. Viele der LehrerInnen arbeiteten früher an staatlichen Schulen, haben aber nun ihren sicheren Beamtenstatus aufgegeben, um dieses neue Schulkonzept umzusetzen. Ihre Bildungsarbeit beruht auf den Paradigmen der Bewegung: Zentral sind die Vermittlung ökologischer Werte und die Verbundenheit mit der Natur. Speziell sollen kollektive Werte vermittelt werden, um gegen den Egoismus kapitalistischer Gesellschaften vorzugehen. So gibt es zum Beispiel einen gemeinsamen Schrank für alle, in den die SchülerInnen ihre Stifte, Hefte, Spielzeuge usw. legen können und diese dann von allen benutzt werden können. Auch klassischen Geschlechterbildern soll schon von klein auf entgegen gewirkt werden. Vor allem wird darauf geachtet keine klassischen Rollenbilder, die oftmals in Lehrbüchern  der Schulbehörde reproduziert werden, zu verbreiten. Eine übergeordnete Bildungskommission sorgt dafür, den Unterricht der Pilotschulen in ganz Nordkurdistan zu vereinheitlichen und neue Schulkonzepte zu erarbeiten.

Diese einmalige Form von Schule wird von den Familien im Stadtteil Baglar sehr gut angenommen, es gibt viel mehr Anmeldungen für das kommende Schuljahr, als die Schule annehmen kann, deshalb wird die Eröffnung weiterer solcher Schulen geplant.

In der Diskussion mit den LehrerInnen betonten diese, dass die Kinder durch diese fortschrittliche Art der Erziehung auch zurück in ihre Familien wirken würden und dort vorhandene patriarchale und religiös-konservative Strukturen nach und nach aufbrechen. Auf meine Frage, ob die in Zukunft anstehenden Schulabschlüsse der GrundschülerInnen vom staatlichen Bildungssystem anerkannt werden, wurde von den Anwesenden betont, dass dies für sie keine große Rolle spiele, da es ihnen um den Aufbau alternativer, nicht-staatlicher Strukturen gehe, mit dem Ziel ein komplett anderes Bildungssystem aufzubauen.

Ein wirklich interessantes Projekt, dass in vielen Regionen Nordkurdistan bestimmt Nachahmung finden wird.

Etwas platt von den langen, sehr intensiven Gesprächen, kehren wir zum Ari-Jugendzentrum zurück. Die Vorfreude auf den nächsten Tag, die große Newroz-Feier, wächst spürbar. Aber noch müssen wir die Aufteilung auf die verschiedenen Routen (siehe 1. Bericht) diskutieren. Nach langem hin und her steht fest, dass ich bei Route 3 dabei sein werde. Es geht also ab dem 22. März Richtung Suruc an der Grenze zu Rojava und für uns also damit auch nach Kobane, dem Stalingrad für den Islamischen Staat. Das wird spannend.

 

21.03.2015: Erster Tag

Nach einem Jahr Pause befinde ich mich im März 2015 endlich wieder auf einer Newroz-Delegation der YXK (Verband der Studierenden aus Kurdistan) in Kurdistan. An dieser Stelle werden sich in den kommenden zehn Tagen politische und persönliche Eindrücke dieser Reise finden. Im Mittelpunkt stehen dabei unsere Erlebnisse, Gespräche und Eindrücke, die wir sammeln und die auch ein paar LeserInnen interessieren dürfte.

Mehr als 70 junge Menschen aus vielen deutschen Städten und aus Katalonien haben sich dieses Jahr entschieden mit einer Delegation den revolutionären Prozess in Kurdistan kennenzulernen. Eine Verbindung zwischen fortschrittlichem, linkem Engagement in Deutschland und der kurdischen Freiheitsbewegung, die insbesondere im letzten Jahr immer stärker geworden ist, wird hier deutlich. Während wir in Deutschland immer noch um die Aufhebung des PKK-Verbots ringen müssen, setzt die Delegation Fakten und diskutiert mit kurdischen AktivistInnen ihr Politikverständnis, besucht Friedhöfe für gefallene KämpferInnen (sog. Sehitlik´s) und nimmt am zentralen (politischen) Neujahrsfest in Diyarbakir, der inoffiziellen kurdischen Hauptstadt, teil.

Dabei sind organisierte Jugendliche unter anderem von Atesh, der SDAJ und Gruppen der radikalen Linken, aber auch viele, die durch die kurdische Bewegung den Mut gefasst haben, sich politisch zu engagieren und (noch) nicht organisiert sind.

Aufgrund der Größe der Delegation, gibt es drei Routen zur Auswahl. Route 1. führt in die Botan-Region im Osten. Dazu gehören Städte wie Hakkari (kurdisch Colemerg) und Yüksekova (kurdisch Gever). Route 2 in den Norden. Dabei geht es in die linke, alevitische Hochburg Dersim, das offiziell Tunceli („Eiserne Faust“) heißt. Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde hier ein alevitischer Aufstand mit brachialer Gewalt niedergeschlagen, die mehrere zehntausend Tote zur Folge hatte. Als Zeichen des Sieges und als Mahnung, nie wieder den Kopf zu erheben, gab die türkische Zentralregierung dem Ort des Massakers den Namen „Eiserne Faust“. Wir nennen ihn aber Dersim, die ursprüngliche Bezeichnung, die fast 80 Jahre danach immer noch nicht aus den Gedächtnissen gelöscht werden konnte. Ihren Abschluss findet die Route 2 in Van (kurdisch Wan), das direkt am Van-See liegt. Die dritte und letzte Route führt an den Grenzübergang nach Kobane, in das kleine Dorf Suruc (kurdisch Pirsus), das momentan von Flüchtlingslagern umgeben ist. Auch Kobane soll besucht und Unterstützung beim Wiederaufbau geleistet werden. Dies sind die Planungen, was in der Realität geschehen wird, lässt sich in Kurdistan nie so richtig planen.

Wahlkampfstimmung
Als ich am Flughafen ankomme, ist die ganze Stadt bereits mit „Happy Newroz“-Plakaten geschmückt und überall sind die kurdischen Farben rot, gelb, grün zu sehen. An vielen Ecken wird getanzt. Die Stadt läuft über, da zur zentralen Newroz-Feierlichkeit zehntausende Gäste aus der ganzen Welt anreisen. Der Sammelpunkt der Delegation ist das Ari Jugendzentrum, das früher Mesopotamisches Jugend- und Forschungszentrum (Megam-Der) hieß und sich nun nach einer gefallenen Kämpferin namens Ari benannt hat.

Das politische Klima in der Stadt und im ganzen Land ist bereits geprägt vom Wahlkampf. Denn am 7. Juni finden Parlamentswahlen statt und die Schwesterpartei von SYRIZA, die linke HDP (Demokratische Partei der Völker) hat zum ersten Mal eine gute Chance die antidemokratisch Wahlhürde von 10% zu überwinden und in das Parlament einzuziehen. Dementsprechend heftig sind die Angriffe von Staatspräsident Erdogan und der AKP gegen den HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtas. Die Regierung verfolgt die Strategie der Spaltung zwischen dem „friedensliebenden“ Repräsentanten der kurdischen Bevölkerung Abdullah Öcalan und dem „bösen“ Falken und Terroristenversteher Demirtas. Ein Plan der aber nicht aufgeht: Vereint stehen die kurdische Bevölkerung und weite Teile der türkischen Linken hinter der HDP. Eine detailliertere Wahlberichterstattung, wird es nach meiner Rückkehr auf kommunisten.de geben.

Dass viele am Friedenswillen der Regierung zweifeln, wird schon in ersten Gesprächen auf der Fahrt zum Jugendzentrum deutlich. Zwar hat Öcalan jetzt ein eigenes 5-köpfiges Sekretariat auf der Gefängnisinsel Imrali bekommen und es wird erwartet, dass er in den nächsten Tagen Besuch von einer Delegation aus türkischen Politikern und Journalisten erhält, gleichzeitig rauschen über unsere Köpfe die startenden Kampfjets von nahegelegenen Militärflughafen hinweg und machen ein Gespräch so gut wie unmöglich.

Am Abend findet eine erste kleine Newroz-Feier auf dem Gelände des Jugendzentrums statt und danach werden die DelegationsteilnehmerInnen auf Familien und Studenten-WGs aufgeteilt. So haben sie die Möglichkeit die kurdische Bewegung auch im direkten Gespräch zu Hause kennenzulernen.

Auf nach Lice
Am ersten Tag mit Programm geht es nach Lice, eine kleine Provinz nur 1,5h entfernt von Diyarbakir. Dort wurde 1978 die PKK gegründet und die Provinzhauptstadt mit ihren knapp 10.000 Einwohnern ist ein Zentrum des Widerstandes. Der türkische Staat hat seine Hegemonie dort längst verloren und kann sie nur mit ca. 20.000 stationierten Soldaten aufrecht erhalten. Diese sind in ihrer Bewegungsfreiheit allerdings stark eingeschränkt und können ihre Kasernen so gut wie nicht verlassen. Die tatsächliche Macht liegt zum einen in den Händen der Volksräte, die die lokale Organisierung der Bevölkerung an den staatlichen Strukturen vorbei darstellt. Es findet sich dabei ein gewisser Parallelismus zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Strukturen. Lokale Volksgerichte und Räte regeln das Zusammenleben, die Bildungseinrichtungen werden aber nach wie vor von Ankara aus organisiert.

Zum anderen liegt die Macht in den Händen der Guerilla-Kämpfer, die die Gegend de facto kontrollieren. So wurde von der Bevölkerung unter dem Schutz der Kämpfer ein Märtyrerfriedhof der gefallenen PKKlerInnen (und in letzter Zeit immer mehr gefallene YPG- und YPJ-KämpferInnen aus Rojava) aufgebaut. Als wir dort ankommen, regnet es in Strömen und die Fahnen der PKK, der HPG (Volksverteidigungseinheiten, bewaffneter Arm der PKK) und von Abdullah Öcalan flattern tropfnass an den Masten. Drei Männer begrüßen uns herzlich und führen uns durch das Gelände. Der Friedhof dominierte im August vergangenen Jahres die türkischen Medien, als dort am 15. August 2015 in Erinnerung zur Aufnahme des bewaffneten Kampfes vor genau 30 Jahren eine überlebensgroße Statue von Mahsum Korkmaz (Heval Agit) enthüllt wurde, einem der Gründer der PKK. Erst dann schienen die türkischen Medien, die sich sonst in Ignoranz gegenüber Entwicklungen in den kurdischen Gebieten üben, zu realisieren, dass der türkische Staat dort keine Rolle mehr spielt. Erdogan befahl der Armee schließlich diese Statue mit aller Gewalt zu zerstören. Dies gelang erst eine Woche nach Aufstellung, da die erbitterten Kämpfe und Blockaden der Bevölkerung ein Durchkommen zum Friedhof massiv erschwerten. Mehrere Menschen wurden getötet und erst nachdem sich die Guerilla-Einheiten zurückzogen, um den laufenden Friedensprozess nicht nachhaltig zu gefährden, gelang der Armee der Abriss der Statue.

Im Gedächtnisraum des Friedhofs treffen wir eine Gruppe selbstbewusster Frauen aus Lice, die sich gerade auf einer Frauenfortbildung befindet und einen Tagesausflug dorthin macht. Sie berichten uns, dass trotz des Friedensprozess der Zulauf zur PKK ungebrochen ist. Teilweise seien in manchen Dörfern keine Jugendlichen mehr vorhanden, da sich alle entweder nach Kandil, dem Hauptquartier der PKK, oder nach Rojava begeben hätten, um dort an der Seite der YPG (Volksverteidigungseinheiten) oder YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) gegen den Islamischen Staat zu kämpfen. Dies macht deutlich, wie dringend der Friedensprozess erfolgreich verlaufen muss, um diesen Menschen auch die Rückkehr in ihre Dörfer zu ermöglichen, ohne verfolgt zu werden. Anschließend diskutieren wir mit den Männern, die den Schutz des Friedhofs organisieren über die allgemeine politische Lage in Südkurdistan, Rojava und der Türkei.

Auf der Rückfahrt nach Diyarbakir erfahren wir, dass die Polizei die Newroz-Feier in Batman mit Tränengas aufgelöst hat, da der Platz zu voll war. Am nächsten Tag stehen politische Gespräche mit verschiedenen Organisationen auf der Tagesordnung. Das zentrale Newrozfest findet am 21. März statt, hoffentlich wird das Wetter bis dahin besser. Wir sind gespannt wie es weitergeht.

Unter www.newrozdelegation2015.blogsport.de gibt es übrigens einen offiziellen Delegationsblog, auf dem viele TeilnehmerInnen ihre Erfahrungen täglich schildern werden. Auf jeden Fall einen Klick wert, denn dieser wird noch aktueller und vielfältiger sein.


txt und fotos: Kerem Schamberger

Farkha2023 21 Buehnentranspi

Farkha-Festival 2024 abgesagt.
Wegen Völkermord in Gaza und Staatsterror und Siedlergewalt im Westjordanland.
hier geht es weiter zum Text


 

 

UNRWA Gazakrieg Essenausgabe

UNRWA Nothilfeaufruf für Gaza
Vereint in Menschlichkeit, vereint in Aktion

Mehr als 2 Millionen Menschen, darunter 1,7 Millionen Palästina-Flüchtlinge, zahlen den verheerenden Preis für die Eskalation im Gazastreifen.
Zivilisten sterben, während die Welt zusieht. Die Luftangriffe gehen weiter. Familien werden massenweise vertrieben. Lebensrettende Hilfsgüter gehen zur Neige. Der Zugang für humanitäre Hilfe wird nach wie vor verweigert.
Unter diesen Umständen sind Hunderttausende von Vertriebenen in UNRWA-Schulen untergebracht. Tausende unserer humanitären Helfer sind vor Ort, um Hilfe zu leisten, aber Nahrungsmittel, Wasser und andere lebenswichtige Güter werden bald aufgebraucht sein.
Das UNRWA fordert den sofortigen Zugang zu humanitärer Hilfe und die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern für bedürftige Palästina-Flüchtlinge.
Dies ist ein Moment, der zum Handeln auffordert. Lassen Sie uns gemeinsam für die Menschlichkeit eintreten und denjenigen, die es am meisten brauchen, die dringend benötigte Hilfe bringen.

Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge

Spenden: https://donate.unrwa.org/gaza/~my-donation


 

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